Ukraine-Geflüchtete und Energiekrise - Viele Sozialämter überlastet - Neukölln schließt für zwei Wochen
Stark steigende Zahl von Asylsuchenden und Ukraine-Flüchtlingen, zudem etliche Anträge auf Energiekosten-Zuschüsse: Berliner und Brandenburger Sozialämter ächzen unter der Last. Neukölln zieht deshalb die Notbremse und macht für zwei Wochen dicht. Von Norbert Siegmund, Marcus Latton und Jenny Barke
Der Weg zur Sozialhilfe, Obdachlosenhilfe und zum Zuschuss zu den Energiekosten geht im Sozialamt Neukölln vorbei an der Security. Taschenkontrolle zum Schutz des Personals und der Kundschaft. Denn nicht selten ist die Lage angespannt. "Wir hatten einen Vorfall, wegen dem der große Wachschutzaufwand betrieben wird. Das Aggressionspotential ist deutlich gestiegen", erklärt die Sachbearbeiterin und Gruppenleiterin Sylvia Dellbrügge.
Dabei sei der Andrang heute noch gering, sagt der Neuköllner Sozialstadtrat Falko Liecke von der CDU dem rbb-Team, als sie die Warteschlange entlang gehen. "Normalerweise ist die Schlange doppelt so lang. Wir sind immer vorbereitet, aber es ist oft schwer zu kalkulieren." Täglich bis 13 Uhr können Menschen in Not in Neukölln Hilfe beantragen. Und die Not ist groß: Laut jüngstem Sozialindex ist der Bezirk der schwächste in Berlin, mit den meisten Armen, Kranken-, Arbeits- oder Obdachlosen. Hinzu kommen seit mehr als einem halben Jahr die Geflüchteten.
Ständiger Druck, Angst vor Klagen, steigende Zahl von Anträgen
Die Probleme Neuköllns lassen sich auf viele Sozialämter der Region übertragen. Angesichts erneut steigender Flüchtlingszahlen stehen viele an der Belastungsgrenze. Vor einer Woche gab der scheidende Oberbürgermeister von Cottbus, Holger Kelch (CDU) bekannt: "Cottbus hisst die weiße Fahne. Wir können nicht mehr." Weil bereits 11.000 Geflüchtete in der Stadt lebten, will die Stadt nun keine neuen Geflüchteten mehr dauerhaft aufnehmen.
Hinzu kommt diesen Herbst eine neue Klientel: Menschen, die Zuschüsse zu ihren Energiekosten beantragen. Für Sylvia Dellbrüggen vom Sozialamt Neukölln ein neuer "Löwenanteil", deren Bearbeitung zwar nicht schwer, aber in der Masse kaum zu bewältigen sei. "Wenn die Abrechnungen nicht bearbeitet werden, dann stehen die Vermieter denen im Nacken und deshalb die Antragsteller wieder bei uns. Wir stehen am Ende einer langen Kette. Das zerreißt."
Eine neue Eskalationsstufe sieht die Gruppenleiterin im stark gestiegenen Beschwerdeaufkommen. "So in der Form habe ich das noch nicht erlebt", sagt Dellbrüggen, die seit 1985 im Bezirk arbeitet. Eine ganze Rechtsanwaltsindustrie sei wie Pilze aus dem Boden geschossen. Klagefreudige Antragssteller würden mit deren Hilfe den Sachbearbeitern "ganz schnell eine Untätigkeitsklage auf den Schreibtisch" schicken. Viele Mitarbeitende seien mit den Nerven am Ende.
Auch andere Bezirke an Kapazitätsgrenze
Um mit der Bearbeitung der Akten hinterherzukommen, schließt deshalb das Sozialamt nun für zwei Wochen vom 10. bis 25. November. Geschlossen für Besucher, die die Sprechzeiten für die Grundsicherung, die Hilfe zum Lebensunterhalt und zum Asyl, Wohnungsnotfälle und den Teilhabefachdienst wahrnehmen wollen. Doch die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter gehen weiter ihrem Dienst nach: Die zweiwöchige Pause soll ihnen Luft verschaffen, um liegengebliebene Anträge und Post zu bearbeiten, Altfälle zu schließen, Neuanträge in Ruhe aufzunehmen.
Auch andere Berliner Sozialämter haben überlegt, wegen Überbelastung zu schließen. "Ich kann Neukölln verstehen, wo andere Arbeit jetzt abgearbeitet wird", sagt Bezirksstadtrat für Soziales in Tempelhof-Schöneberg, Matthias Steuckardt (CDU). Auch sein Sozialamt müsse sich seit dem Frühjahr durchkämpfen, viel Arbeit sei an anderer Stelle liegengeblieben. Letztlich habe sich sein Bezirk aber gegen eine Schließung entschieden. Dabei betont Steuckardt, dass nicht die Geflüchteten Grund für die aktuelle Lage seien. Es sei unter derzeitiger Personalnot einfach der Punkt gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hätte.
Ähnlich reagieren auch andere Bezirksämter auf Anfrage: "Wir haben insgesamt mehr Menschen, die versorgt werden müssen bei relativ gleich vielen Kolleginnen und Kollegen, das klappt auf Dauer nicht", heißt es vom Sozialstadtrat Mitte, Carsten Spallek (CDU). Und auch in zweitkleinsten Sozialamt von Berlin, in Steglitz-Zehlendorf, haben sich die Fälle von Geflüchteten von Februar bis jetzt auf 3.000 verzehnfacht.
Nicht in allen Bezirken Überlastung
Aus den genannten Bezirksämtern kommt deshalb die immergleiche Forderung: Es brauche mehr Personal. So nennt Spallek aus Mitte 18 offene Stellen, Sozialstadtrat Falko Liecke aus Neukölln fordert 40 neue Mitarbeiter vom Senat. Doch das Feedback des Senats sei verhalten, so Liecke. "Es heißt 'Wir schauen mal, dann sehen wir schon', so können wir aber nicht arbeiten. Wir brauchen endlich Unterstützung von Landesebene, ansonsten laufen wir uns hier tot und die Kolleginnen und Kollegen fallen reihenweise aus."
Dabei scheint das Problem nicht gleichermaßen auf alle Bezirks Berlins zuzutreffen - und auch in Brandenburg gibt es Stimmen, die weniger alarmistisch klingen. Marzahn-Hellersdorf teilt dem rbb mit, dass die Zahlen an Geflüchteten zwar gestiegen seien, aber der Bezirk gut zurechtkäme. "Es ist nicht so, dass wir tageweise schließen müssen oder die Sprechstunde einschränken müssen, sondern wir können das derzeit noch ganz gut abarbeiten", sagt Sozialstadträtin Nadja Zivkovic (CDU).
Lichtenberg: "Verfahren im Vergleich zu 2015 deutlich strukturierter"
Auch in Treptow-Köpenick seien die Anträge noch händelbar, teilt der Bezirk auf Anfrage mit. Ein Grund für die unterschiedlich starke Überlastung sieht CDU-Sozialstadtrat Steuckardt vom Bezirk Tempelhof-Schöneberg darin, dass Geflüchtete sich eher Bezirke aussuchten, in denen es bereits eine russisch- bzw. ukrainischsprachige Community gebe. "Deshalb ist die Arbeit bei den Bezirken ganz unterschiedlich verteilt."
Sozialstadtrat Kevin Hönicke (SPD) lobt indes die Zusammenarbeit mit dem Senat und kann Neuköllns Kritik für sein Amt nicht bestätigen: "Wir haben zu Beginn des Ukraine-Kriegs vier Personen mehr eingestellt, mehr Bedarf ist bei mir nicht angekommen." Zudem hält er das Verfahren zur Aufnahme von Geflüchteten und der Bearbeitung der Anträge im Vergleich zu 2015 für deutlich klarer strukturiert.
Potsdam und Potsdam-Mittelmark kritisieren Cottbuser Aufnahmestopp
In einigen Brandenburger kreisfreien Städten und Kommunen heißt es auf Nachfrage, dass die Lage zwar angespannt, aber noch nicht überstrapaziert sei. Nachdem Cottbus den Aufnahmestopp verkündet hat, teilten Potsdam und der Landkreis Potsdam-Mittelmark in einer Pressemitteilung mit, dass sie sich "deutlich gegen diesen Schritt" stellen. Wichtig sei, dass sich Kommunen, Bund und Länder gemeinsam der Aufgabe stellen müssten, die Menschen unterzubringen.
"Es hilft nichts, Diskussionen über weiße Fahnen miteinander zu führen, wenn Geflüchtete in den nächsten Monaten insbesondere aus den Kriegsgebieten in der Ukraine kommen, dann müssen wir gemeinsam Möglichkeiten finden, diese Menschen unterzubringen", sagt Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) dem rbb. Potsdam habe in solchen Situationen immer eine gewisse Kreativität gezeigt, noch Möglichkeiten zu finden. Wenn die Zahlen weiter steigen, so würde die Stadt diese Kreativität wieder zeigen.
Sendung: Inforadio, 27.10.2022, 18:17 Uhr