Radsport-Experte Jens Voigt - "Das Best-of von zehn Jahren Tour de France in nur einer Tour"

So 23.07.23 | 10:21 Uhr
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Jens Voigt war bis 2018 zusammen mit zwei weiteren Fahrern Rekordteilnehmer der Tour de France. (Foto: IMAGO / opokupix)
Bild: IMAGO / opokupix

Jens Voigt hat die Tour de France hautnah auf dem Motorrad medial begleitet. Der Ex-Radrennprofi spricht im Interview über den Zweikampf zwischen Vingegaard und Pogacar, Doping-Vorwürfe, die Entwicklung des Sports und den Verschleiß bei der Tour.

Jonas Vingegaard fiel am Samstag fast vom Podium, als er einem Fan mit Wikinger-Mütze schwungvoll den Blumenstrauß der Siegerzeremonie zuwarf. Locker und gelöst zelebrierte der Däne im Gelben Trikot seinen (fast) perfekten zweiten Gesamtsieg bei der Tour de France - der kleine Nadelstich im längst entschiedenen Duell mit seinem Rivalen Tadej Pogacar war angesichts der bevorstehenden Triumphfahrt nach Paris leicht zu verkraften. Nach drei Wochen voller Strapazen, Stress und Spektakel wird Vingegaard am Sonntag wie im Vorjahr als Gesamtsieger der Frankreich-Rundfahrt auf die Champs Elysees einbiegen. Sein Vorsprung auf den zweitplatzierten Pogacar beträgt 7:29 Minuten.

Jens Voigt begleitete all das hautnah. Der 51-jährige ehemalige Radrennprofi fuhr die Tour de France selbst von 1998 bis 2014, zwei Etappen gewann er (2001, 2006) - 2006 wurde er sogar Berlins Sportler des Jahres. Neben seiner Beraterfunktion für das Team "Trek Factory Racing" ist er seit 2019 als Co-Kommentator und Experte bei Eurosport tätig. Die diesjährige Tour begleitete Voigt für GCN sogar auf dem Motorrad in unmittelbarer Nähe zu den Fahrern.

rbb|24: Herr Voigt, welche Überschrift würden Sie der diesjährigen Tour de France geben?

Jens Voigt: Oh, da brauche auf jeden Fall mehr als ein Wort. Dramatisch, spektakulär, unglaublich schwer, jeden Tag irgendein Drama, jeden Tag irgendeine wunderschöne Geschichte am Straßenrand im Peloton. Es war wie das Best-of von zehn Jahren Tour de France in nur einer Tour.

Vor der Tour haben Sie sich auf Tadej Pogacar in Gelb festgelegt und zwei Wochen sah es so aus, als hätte er gute Karten. Was ist in dieser dritten Woche passiert?

Eine einfache und plausible Erklärung wäre: Pogacar ist im April gestürzt und musste an der Hand operiert werden. Zwischen April und Mai hat er als einzige Radrennen die zwei Rennen der slowenischen Meisterschaft gefahren – und sie auch gewonnen. Bei aller Liebe für den slowenischen Radsport: Das ist ja kein Ersatz für beispielsweise eine Tour de Suisse. Eine Möglichkeit ist, dass er ohne Wettkampfkilometer in das Rennen kam. Im Trainingslager kannst du die gesamte Härte des Rennens nicht wirklich vollständig simulieren, dir fehlt also ein wenig der Rhythmus. Er war super frisch, frischer als alle anderen, so ist er auch in der ersten Woche auf der Welle dieser Frische geritten. Doch dann ging es an die Substanz. So ist er in ein Loch gefallen, aus dem er erst nach zwei bis drei Wochen wieder herausgekommen ist.

Die zweite Variante ist: Er war einfach krank. Im Fernsehen war gut zu sehen, dass er Herpesbläschen an der Lippe hatte – sowas passiert nur, wenn der Körper geschwächt ist. Auf dem Leistungsniveau, auf dem sich diese Fahrer bewegen, können drei Prozent weniger Leistung durch beispielsweise einen Husten bereits zwischen Platz eins und sechs oder sogar sieben entscheiden. Diese zwei Umstände, womöglich sogar kombiniert, ergaben jenes Loch, das Pogacar zur Mitte der Tour gespürt hat.

Der andere große Name dieser Tour: Jonas Vingegaard ist unglaublich dominant, scheint gefühlt keine Schwächen zu besitzen. Ist er in der Zukunft schlagbar?

Auf jeden Fall. Wir haben auch einst gedacht, Chris Froome gewinnt fünf oder sechs Tour de France, nach vieren ist er jedoch gestürzt und dann war Schluss. Dann kam Egan Bernal, der wirklich souverän die Tour gewann – und auch er gewann die Tour nicht etwa vier Mal am Stück. Dann kam Pogacar und gewann zwei Mal hintereinander und auch er gewann nicht, wie manch einer antizipierte, fünfmal hintereinander. Es gibt immer einen Jüngeren, Besseren oder Schnelleren. Man kann krank sein, stürzen, vielleicht stimmt etwas zu Hause bei der Familie nicht und du bist mit dem Kopf woanders – es gibt einen Haufen an Gründen, warum es nicht jedes Mal perfekt läuft.

Ich verstehe die Zweifel der Leute. Wir sind schließlich eine vorbelastete Sportart, das werden wir auch in den nächsten 50 Jahren mit uns herumschleppen.

Vingegaard hat bei dieser Tour gleich mehrere Rekorde aufgestellt und Schätzungen nach Watt-Werte in die Pedale getreten, die es so in der Radgeschichte nur zur Hochzeit des Dopings gab. Dieses Thema begleitet die Tour deshalb in diesem Jahr besonders: Verstehen Sie die Zweifel und wie ist Ihre Position dazu? Ist der Radsport heute sauberer?

Ich sage zu allem ja! Ich verstehe, dass die Mannschaft sich verteidigt und sich die Fahrer womöglich auch verletzt fühlen, dass bei einem starken Rennen sofort wieder der Doping-Vorwurf kommt. Ich verstehe aber auch die Zuschauer, die sagen: 'Mein Güte, das ist nun aber auch unglaublich stark!' Nun besitzt Vingegaard als junger Fahrer anscheinend die maximale Sauerstoffaufnahmefähigkeit, die ihn zu solch einer Leistung befähigt.

Es wurde sehr schnell gefahren, das ist gar keine Frage. Als Außenstehender kann man sich das vielleicht nicht erklären. Nun ist es so, dass Radsport im Allgemeinen schneller geworden ist. Die Fahrer sind vielleicht nicht stärker geworden, aber sie fahren mit aerodynamischeren Helmen, sie fahren nicht mehr mit Trikot und Rennhose, sondern mit einem Einteiler und sie fahren mit Carbon-Rädern, die alle am unteren Gewichtslimit sind und die Reifen haben besseren Rollwiderstand. Das heißt: mit dem gleichen Leistungsvermögen fahren die Fahrer heutzutage im gesamten Durchschnitt der Tour de France zwei bis drei km/h schneller als zum Beispiel 1999, als ich meine zweite Tour gefahren bin. Das Equipment spielt eine große Rolle. Zudem fahren all diese jungen Fahrer bereits seit sie zwölf Jahre alt sind nach Trainingsplan, haben Ernährungspläne, machen ihr Coremuscle-Training und achten durch Windkanaltests auf ihre Position – sie kommen also viel besser vorbereitet in den Profibereich und bringen ein Niveau mit, an das sich alle anpassen müssen.

Ich will aber nicht vom Thema ablenken: Ich verstehe die Zweifel der Leute. Wir sind schließlich eine vorbelastete Sportart, das werden wir auch in den nächsten 50 Jahren mit uns herumschleppen. Sobald es eine außergewöhnliche Leistung gibt, wird der ein oder andere die Augenbraue anheben.

Matej Mohoric kämpfte nach seinem Gewinn der 19. Etappe mit den Tränen. Er erklärte, dass Radfahrer für ihre Karriere ein Teil seines Lebens opfern würden, leiden müssten und es grausam sei, dass trotz dieser Anstrengungen aller am Ende nur einer gewinnen kann. Er nannte es "grausam" und gab intime Einblicke in das Seelenleben eines Radprofis. Wie bewerten Sie seine Aussagen? Wie können Radprofis im mentalen Bereich unterstützt werden?

Es war ein großartiges Interview: Überglücklich, völlig erschöpft und leergepumpt, er hatte auch noch keine Zeit, sich seine Worte zurechtzulegen. Er hat wirklich seine Seele geöffnet und uns hineinblicken lassen. Er sagte, dass er sich an manchen Tagen so gefühlt hätte, als sei er nicht gut genug. Das kann jeder, der mal Rad gefahren ist, gut verstehen. Es gibt keinen Fahrer auf der Welt, der absolut jedes Jahr eine Etappe oder Tour gewinnt. Du bist ja schon froh, wenn du in deinem Leben nur mal eine einzige Tour-Etappe gewinnst oder alle paar Jahre eine. Das hat er gut dargestellt und nochmal das Team hinter dem Team gelobt, denn es ist für alle ein harter Job. Die Radfahrer heute sind öfter von ihrer Familie getrennt und werden zum "gläsernen Profi", können dafür aber auch die heutigen Zeiten fahren.

Das Team Bora-Hansgrohe hatte eine starke erste Woche, zuletzt aber deutlich weniger Erfolg und auch das Podium ist in die Ferne gerückt. Wie bewerten Sie die Tour des deutschen Teams?

Wir hatten nur sieben deutsche Fahrer, von denen zwei leider aufgeben mussten. Die Deutschen haben das herausgeholt, was man vernünftig kalkuliert auch erwarten konnte. Sie haben nicht negativ überrascht, sie haben aber auch keinen Ausreißer nach oben produziert.

Der Berliner Simon Geschke hatte nach seiner furiosen letzten Tour (gewann damals fast das Bergtrikot) diesmal weniger Glück und musste kurz vor Ende der Tour sogar aussteigen: Wie haben Sie seine Tour erlebt?

Er hatte bis zur Tour ohnehin ein schwieriges Jahr. Bis zwei Wochen vor der Tour war er sich auch nur zu 60 Prozent sicher, ob er tatsächlich ausgewählt wird, weil seine Vorbereitung durch Verletzungen und Erkrankungen nicht so schnurglatt verlief. Er wurde aufgrund seiner Erfahrung, Loyalität und seines Kampfgeistes zur Tour mitgenommen. Als Mannschaft wussten sie vermutlich schon, dass Geschke nur bei 90 bis 95 Prozent ist – es ist auch eine Art der Auszeichnung für ihn, dann trotzdem mitgenommen zu werden.

Als Kommentator bei Eurosport hat man sich an Ihre Stimme gewöhnt, beim Giro d'Italia und jetzt bei der Tour saßen Sie für GCN aber auch auf dem Motorrad und hatten so nochmal einen anderen Blickwinkel auf das Rennen: Was fiel Ihnen bei der Tour dadurch besonders auf und welche Erkenntnisse nehmen Sie daraus mit?

Wenn du mit dem Motorrad auf der Tour bist, ist das so nahe, wie es nur irgendwie geht. Du spürst den Wind, die Sonne, den Regen, die Kälte, den Straßenbelag, ob es rau oder glatt ist, die Stimmung der Zuschauer – all das ohne diese unsäglichen Schmerzen in den Beinen. Du siehst aber auch das Leiden der Fahrer. Bei der Mannschaftsvorstellung glühen die Leute noch vor Energie – jung, gesund, in der Form ihres Lebens, mit frischem Haarschnitt und nagelneuem Fahrrad! Und zum Ende der Tour sind diese Fahrer dann ausgemergelt, sonnenverbrannt, haben Sturzwunden – es ist unglaublich, wie elendig und kaputt dieselben Menschen mit ganz hohlen Augen, die bei der Bergetappe nur noch ins Leere starren, am Ende aussehen. Jene Entwicklung sieht man auf dem Motorrad nochmal deutlich besser.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Marc Schwitzky, rbb Sport.

Sendung: rbb24 inforadio, 13.00 Uhr, 23.07.2023

2 Kommentare

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  1. 2.

    Ich hab mich immer gefragt, warum Voigt nicht in der ARD moderiert. Guter Mann.

  2. 1.

    Schönes Interview, beim nächsten Mal auch gerne als Audio (wg. der Rechtschreibfehler).
    Dann mal dem Herrn Voigt noch einen tollen letzten Tag und danach wieder viel Spaß bei und mit den Vögeln (Tele und Fernglas nicht vergessen!) :)
    Was die Profis angeht, da bin ich ja Lokalpatriotin und find' sie alle super.

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