Fazit zum Theatertreffen 2023 - Bemerkenswert träge

Mo 29.05.23 | 15:44 Uhr | Von Fabian Wallmeier
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Akademietheater: ZWIEGESPRÄCH von Peter Handke, Uraufführung am 8.12.2022 (Quelle: Susanne Hassler-Smith)
Bild: Susanne Hassler-Smith

Ein schwacher Jahrgang des Berliner Theatertreffens geht an diesem Montag zu Ende. Bei den zehn eingeladenen Inszenierungen gab es wenig zu entdecken - und das neue Rahmenprogramm wirft weitere Fragen auf. Von Fabian Wallmeier

Es klang so vielversprechend: Statt der immer gleichen Regie-Größen hatte die Jury des Theatertreffens mehrheitlich neue Namen eingeladen. Sieben der Regisseur:innen der zehn von den Juror:innen für bemerkenswert befundenen und nach Berlin eingeladenen Inszenierungen waren zuvor noch nicht beim Theatertreffen vertreten. Zwei weitere (Florentina Holzinger und Antú Romero Nunes) waren zum zweiten Mal eingeladen - und mit Sebastian Hartmann (vier Einladungen) nur ein einziger Dauergast des Festivals im Programm.

Neue Ideen, neue Zugriffe, frische Stimmen also? Mit dem Ende des Theatertreffens am Pfingstmontag muss man sagen: Leider nein. Stattdessen war bei der Zehner-Auswahl in diesem Jahr vor allem eine um sich greifende Trägheit bemerkenswert. Kaum eine Inszenierung tat sich durch außergewöhnliche ästhetische Zugriffe oder ungeahnte thematische Setzungen hervor.

Schon der Auftakt war kein Vergnügen: "Das Vermächtnis" vom Münchner Residenztheater war vor allem: lang. Siebeneinhalb Stunden dauerte Philip Stölzls Inszenierung von "Das Vermächtnis". So ziemlich das einzige Positive, was sich über diese biedere Kitsch-Parade sagen lässt: Das Ensemble war hochkonzentriert und energiegeladen.

KINDER DER SONNE, Regie - Mateja Koležnik (Quelle: Matthias Horn)
Beitrag aus Bochum Nummer 1: "Kinder der Sonne".Bild: Matthias Horn

Müde Abende aus Bochum

Die Biederkeit des Eröffnungsabends gab den Ton für das Treffen vor. Aus Bochum kam ein durch und durch klassische Inszenierung von Maxim Gorkis "Kinder der Sonne". Regisseurin Mateja Koležnik setzt dabei auf ein naturalistisches Setting und ein prägnant spielendes Ensemble. Dominik Dos-Reis erhielt für seine Darstellung des unglücklichen Tierarztes Tschepurnoi den Alfred-Kerr-Darstellerpreis 2023. Eine überraschende (viele hatten auf Vincent zur Linden in "Das Vermächtnis" gesetzt), aber nachvollziehbare Entscheidung. Die Inszenierung selbst jedenfalls: Gehobenes Klassiker-Abbildung-Niveau, sicherlich. Aber bemerkenswert?

Noch müder geriet die zweite Einladung aus Bochum. "Der Bus nach Dachau" vom niederländischen Theaterkollektiv De Warme Winkel befasst sich mit der Frage, wie man heute an den Holocaust erinnern kann. Sehr didaktisch tippt der Abend allerlei an, denkt nichts zu Ende und dämmert ohne nennenswerten Erkenntnisgewinn seinem Ende entgegen.

DER BUS NACH DACHAU, Regie - Vincent Rietveld und Ward Weemhoff (De Warme Winkel) (Quelle: Isabel Machado Rios)
Und die Nummer 2: "Der Bus nach Dachau".Bild: Isabel Machado Rios

"Nora" zerfällt zunehmend

Ähnlich träge war unterm Strich auch "Ein Sommernachtstraum" vom Theater Basel. Antú Romero Nunes' Abend um ein probendes Lehrer:innenkollegium beginnt als recht witziges Kabarett, zieht sich dann aber sehr.

Auch "Nora" von den Münchner Kammerspielen kommt nicht richtig in die Gänge. Felicitas Bruckers Inszenierung stellt dem Dramen-Text von Henrik Ibsen eine Reihe neuer Texte an die Seite. Dabei entsteht, trotz Katharina Bachs bravouröser Leistung in der Titelrolle, kein großes Ganzes. Vielmehr zerfällt und zerfasert der Abend zunehmend und findet keinen Ton, der den höchst unterschiedlichen Texten gerecht wird.

Die beiden eingeladenen Inszenierungen vom Wiener Burgtheater stechen immerhin noch durch ihre ästhetischen Qualitäten hervor: Sowohl Lucia Bihler ("Die Eingeborenen von Maria Blut") als auch Rieke Süßkow ("Zwiegespräch") zeigen mit ihren Arbeiten ein hohes Stil- und Formbewusstsein, eine klare Konzentration auf Bilder. Inhaltlich dagegen wird von beiden Inszenierungen wenig im Gedächtnis bleiben.

NORA, Regie - Katharina Bach ​(Quelle: Armin Smailovic)
Katharina Bach in der Titelrolle in "Nora".Bild: Armin Smailovic

Fragwürdige 3sat-Preis-Vergabe

Das trifft vor allem auf "Zwiegespräch" zu. Der Text von Peter Handke pendelt zwischen Anekdoten und Bildungshuberei und streift in assoziativer Plauderei allerlei Themen: das Verhältnis der Generationen, den Nationalsozialismus, Gewalt, das Theater selbst und so weiter. Was genau geredet wird, wird größtenteils von der Inszenierung überdeckt. Der Abend beginnt damit, dass sich einige Minuten lang sehr langsam ein schier endlos langer Paravent von links nach rechts schiebt. Er teilt künftig die Bühne in die Welt der Alten und die der Jüngeren - und lässt durch Verschiebungen im Lauf der Inszenierung die der Alten immer kleiner werden.

Für das Bühnenbild dieses Pflegeheim-Settings erhielt Mirjam Stängl den 3sat-Preis. Es ist eine seltsame Entscheidung, das Bühnenbild allein hervorzuheben. Wenn schon, dann wäre sein Zusammenspiel mit Licht (Marcus Loran) und Kostümen (Marlen Duken) preiswürdig gewesen. Links ist die fahl-beige Welt der Alten zu sehen, rechts die gedeckten Altrosa- und Mintgrün-Töne des jüngeren Pflegepersonals - als hätte eine künstliche Intelligenz die Aufgabe bekommen, ein Altenheim im Stil eines Wes-Anderson-Films zu erschaffen. Der allmähliche Übergang von der einen Welt in die andere erfolgt allein mit Lichtwechseln und der Verschiebung des Paravents - wobei kongenial auch die Kostüme plötzlich ganz anders erstrahlen. Das hat schon, bei aller inhaltlichen Leere, einen ziemlichen Schauwert - ist aber nun einmal ganz offensichtlich eine Team-Leistung.

Stilbewusst, aber altbekannt

Schauwert hat auch "Die Eingeborenen von Maria Blut", eine Aneinanderreihung von Vignetten nach dem Roman von Maria Lazar, der eine österreichische Dorfgemeinschaft zur Zeit des aufkeimenden Nationalsozialismus zeigt. Eine riesige Marienfigur steht in der Mitte auf einem mit Lichtern umrandeten Podest. Die kurzen Szenen werden mit Schwarzblenden und dem grellen Aufleuchten von Glühbirnen voneinander getrennt, die das Bühnenportal umranden. Das ist stilbewusst und wirkungsvoll, obwohl auch hier der Text ein wenig hinter dem Bühnenspektakel verschwindet.

Doch einiges kommt einem altbekannt vor: Die Holzkopfmasken, die gleichfarbigen Gewänder, das sichtbare Synchronisieren der Dialoge von den Bühnenseiten: All das erinnert an Claudia Bauer, Herbert Fritsch und Victoria Behr oder auch Susanne Kennedy - und weiß nicht viel Neues hinzuzufügen.

Akademietheater: DIE EINGEBORENEN VON MARIA BLUT, Regie - Maria Lazar (Quelle: Susanne Hassler-Smith)
Stilbewusst und wirkungsvoll - aber auch nichts wirklich Neues: "Die Eingeborenen von Maria Blut"Bild: Susanne Hassler-Smith

Provokante Provinz

Die ästhetisch radikalste Inszenierung des Festivals kam überraschend aus der sogenannten Provinz. Philip Preuß' "Hamlet" vom Anhaltischen Theater Dessau hält sich sein Publikum eitel vom Leibe. Die vordere Hälfte der Bestuhlung ist gesperrt (in Dessau bleibt das Parkett dem Vernehmen nach sogar vollständig leer, nur die Ränge sind geöffnet), Microport-verstärkt sprechen, raunen und schreien die Figuren teils von hinter dem Eisernen oder einem der vielen anderen Vorhänge, sodass oft unklar ist, wer da eigentlich spricht.

Die Inszenierung, die an den beiden Pfingsttagen das Festival beschließt, setzt auf permanente Wiederholung. Allein das berühmte Zitat "Sein oder Nichtsein - das ist die Frage" fällt gefühlt alle zwei Minuten. Und rund eine halbe Stunde vor Schluss beginnt der Abend dann einfach noch einmal komplett von vorn. Genervte Zuschauer:innenreaktionen sind dabei erkennbar eingepreist: Das Saallicht ist an, die Türen sind auf - Walkouts sind gewollt und folgen prompt scharenweise. So endet das Theatertreffen mit einer eitel kalkulierten Provokation - aber wenigstens traut sich hier endlich jemand mal etwas.

Anhaltisches Theater Dessau: HAMLET, Regie - Philipp Preuss (Quelle: Claudia Heysel)
Genervte Zuschauer:innen, die den Saal verlassen, sind Teil der Inszenierung: "Hamlet" aus Dessau. Bild: Claudia Heysel

Berlin muss es richten

Tatsächliche Höhepunkte der Zehner-Auswahl sind dagegen die Einladungen aus Berlin. Florentina Holzingers "Ophelia's Got Talent", der Hit der Saison an der Berliner Volksbühne, ist ein gewaltiges Spektakel zwischen Casting-Show und feministischem Empowerment. Sebastian Hartmann, der Meister der assoziativen Verrätselung und Verdüsterung weitschweifiger Romane, überraschte mit einem anregenden, witzigen und tatsächlich zu Herzen gehenden Musiktheaterabend, "Der Einzige und sein Eigentum" am Deutschen Theater.

Das sind zweifellos "bemerkenswerte" Inszenierungen, so das legendär schwammige Kriterium, das der Jury für die Auswahl an die Hand gegeben wird. Wirklich Neues freilich bieten auch sie nicht - Hartmann und vor allem Holzinger führen vielmehr ein weiteres Mal ihre erprobten Regiehandschriften vor.

Was aber mag am Rest der Auswahl bemerkenswert erschienen sein? Kreuzbraves neben Gutgemeintem, Kitsch neben Überästhetisiertem. Kaum Wagnisse, keine Momente, die staunen ließen über das, was Theater zu leisten imstande sein kan. Unterm Strich bleibt einer der schwächsten Jahrgänge der vergangenen Jahre. Woran das gelegen hat, ist schwer zu sagen. Wer außer der Theatertreffen-Jury hat schon einen dermaßen profunden Überblick über das gesamte Theaterschaffen im deutschsprachigen Raum? Vielleicht haben sie in diesem Jahr einfach nur bestürzend wenig Bemerkenswertes vorfinden können.

Desolates Rahmenprogramm

Mindestens genauso sehr zu denken gibt das Beiprogramm, das die neue Theatertreffen-Leitung dem Festival an die Seite geklatscht hat, ohne erkennbare Anbindung an den Kern des Treffens, die Zehner-Auswahl. Neben den "10 Stücken" waren "10 Treffen" vorgesehen, die die zehn Stücke "umrahmen, umgarnen und umarmen" sollten, wie es in der Ankündigung hieß.

In Wirklichkeit waren es erheblich mehr als zehn Treffen: Hinter den "Treffen" verbargen sich meist mehrere Programmpunkte: Panels, Workshops und Performances. Vor allem Letztere hinterließen in der Summe (alle habe ich nicht gesehen, aber doch einige) einen desolaten Eindruck. Statt künstlerischer Qualitäten schienen bei Einladungen für beispielsweise die halbfertige Nummernrevue "Bunker Cabaret" aus der Ukraine oder den brav didaktischen Multimedia-Vortrag "Cyber Elf" (über russische Netz-Propaganda) eher politische oder gar karitative Kriterien den Ausschlag gegeben zu haben. Und vom "Umrahmen, Umgarnen und Umarmen" der Zehner-Auswahl war keine Spur zu sehen.

Und jetzt?

Überhaupt das Auftreten des neuen Leitungs-Teams: Schon bei der Eröffnung fielen Intendant Matthias Pees und den drei Theatertreffen-Chefinnen Olena Apchel, Carolin Hochleichter und Joanna Nuckowska nicht viel mehr als Dank an das Team und das Verlesen vieler Namen von Beteiligten ein. Wohin das erste Theatertreffen unter ihrer Leitung programmatisch will, wie sie selbst zum Theater der Gegenwart stehen: Zu all dem kein Wort.

Was bedeutet nun diese zur Schau gestellte programmatische Orientierungslosigkeit für die Zukunft des Theatertreffens? Kommt jetzt die Internationalisierung und grundsätzliche Infragestellung der Zehner-Auswahl, die das Leitungs-Team zuvor wolkig angedeutet, aber in diesem Jahr dann doch nicht umgesetzt hatte? Das wäre bemerkenswert kurzsichtig. Denn die Idee, eine Jury ein Jahr lang durch Deutschland, Österreich und die Schweiz reisen zu lassen, um eine Art Leistungsschau des Theaterschaffens nach Berlin zu bringen, ist auch in ihrem 60. Jahr wunderbar. Auch nach einem schwachen Jubiläums-Jahrgang.

Hinweis des Autors: Die beiden Berliner Inszenierungen habe ich zum Theatertreffen nicht noch einmal gesichtet. Die Bemerkungen zu "Ophelia's Got Talent" und "Der Einzige und sein Eigentum" beziehen sich auf die jeweiligen Premieren.

Cyber Elf (Theatertreffen 2023) (Quelle: Maurycy Stankiewicz)

Sendung: rbbKultur, 29.05.2023, 12 Uhr

Beitrag von Fabian Wallmeier

1 Kommentar

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  1. 1.

    Was man sich zuerst fragen sollte: ist der Text eines Dramas wirklich gut, oder nur wischi-waschi?
    Und hier liegt der Knackpunkt.
    Anders als früher gibt es kaum noch Texte, die wirklich beeindrucken.
    Wo sind in Deutschland die Provokateure?
    Nirgends. In Zeiten, wo die Kritik am Spießertum, an den Fiktionen des postbürgerlichen status quo zur medialen Degradierung des Schreibers führt, überlegt man sich zweimal, was man schreibt. (Nicht erst, weil man garantiert Beifall von den ganz Ungebildeten bekäme, die ihre völkischen Narrative befeuerten.)
    Hans Magnus Enzensberger, Alice Schwarzer, Elke Heidenreich, Wolfgang Thierse und viele andere mussten erleben, wie sie vom Mainstrem als reaktionär, islamophob oder anderes abgetan wurden.
    Und das sind überhaupt noch keine Dramatiker!
    Das heutige deutsche Drama eckt nicht mehr an, zu groß das Risiko für den Autor.
    Die revolutionären Dramatiker sind hier leider ausgestorben. Dabei konmt erst das Denken und dann das Drama.

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