Polizeiliche Kriminalstatistik für Berlin - Zurück zur "Normalität" – aber nicht bei den Kindern
Nach dem Ende der Corona-Pandemie steigen die erfassten Straftaten in Berlin insgesamt wieder an. Sorgen machen Politik und Polizei vor allem die Zahlen zu jungen Tatverdächtigen. Was steht drin in der Statistik - und was fehlt? Von Sabine Müller
- Polizei registriert leichte Zunahme von Straftaten in der Stadt
- Zunahme bei Diebstählen und Rohheitsdelikten
- steigende Tendenz bei Kindern und Jugendlichen als Straftäter
- Aufklärungssquote leicht gesunken
Dem Auftritt der Berliner Innensenatorin Iris Spranger (SPD) und der Polizeipräsidentin Barbara Slowik, die die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) präsentierten, hätte eigentlich ein Warnhinweis vorangestellt werden müssen: Achtung, diese Zahlen liefern kein genaues Abbild der Sicherheitslage in der Stadt.
Schließlich erfasst die Statistik nur jene Straftaten, die die Polizei registriert und bearbeitet. Es fehlt das sogenannte Dunkelfeld, das in manchen Bereichen, etwa häuslicher Gewalt oder Sexualdelikten, sehr hoch ist. Bei Kontrolldelikten wie Drogenhandel oder Schwarzfahren hängt die Höhe der erfassten Zahlen stark von der Intensität der Kontrollen ab.
Außerdem stellen sich längst nicht alle erfassten Fälle hinterher tatsächlich als Straftat heraus und münden gar in einer Verurteilung. Experten fordern seit Langem, die PKS müsse unter anderem um Statistiken zur Strafverfolgung und durch Dunkelfeldbefragungen ergänzt werden.
In Richtung Vor-Corona-Niveau
Polizeipräsidentin Barbara Slowik konstatierte mit Blick auf das vergangene Jahr: "2022 begann im Alltag die Rückkehr zur Normalität ohne Corona und das gilt auch für die Kriminalität." 519.827 erfasste Straftaten bedeuteten ein Plus von 7,8 Prozent gegenüber 2021, damit lag das vergangene Jahr leicht über dem Vor-Corona-Niveau von 2019 (+1,2).
Von "guten Zahlen" wollten Slowik und Innensenatorin Iris Spranger nicht sprechen, aber beide betonten, im Bundesschnitt sei der Anstieg mit 11,5 Prozent deutlich höher ausgefallen. Was die Aufklärungsquote angeht, verwiesen Spranger und Slowik darauf, sie sei fast stabil geblieben und nur leicht von 50,3 Prozent auf 44,9 gesunken. Das sei der dritthöchste Wert in den vergangenen zehn Jahren.
Allerdings war Berlin schon mit dem leicht höheren Wert 2021 das Schlusslicht unter den Bundesländern. Der Spitzenreiter Bayern kam auf 69 Prozent Aufklärungsquote.
Häufig macht die Gelegenheit Diebe
Jenseits der gestiegenen Zahl der insgesamt erfassten Straftaten zeigt der Blick in einzelne Bereiche sehr unterschiedliche Entwicklungen. Deutliche Zuwächse gab es etwa bei den erfassten Diebstählen (+19,1), bei Kraftfahrzeugen und Fahrrädern genauso wie bei Taschen- und Ladendiebstahl. Zur Erklärung hieß es: Weil die Menschen nach Corona wieder verstärkt draußen unterwegs gewesen seien, habe es mehr Tatgelegenheiten gegeben.
Auch die Zahl der erfassten Rohheitsdelikte wie Raub oder Körperverletzung stieg an (+14,4), ebenso Mord und Totschlag (+14, 114 Tote). Ein deutliches Minus gab es unter anderem bei den erfassten Einbrüchen in Keller (-31,2) und beim Computer-Betrug (-64,1).
Kurioser Ausreißer: Der Bereich mit dem weitem höchsten Zuwachs war "Diebstahl von beziehungsweise aus Automaten". Das riesige Plus von mehr als 1.700 Prozent im Jahr 2022 relativiert sich allerdings, weil sich die Einbruchsserie in die Bezahlautomaten an öffentlichen Toiletten wohl nie mehr wiederholen wird. Denn die Toiletten funktionieren inzwischen entweder bargeldlos oder sind umsonst.
Tatwaffe Messer
Angesichts der aktuellen Debatte über Messer-Verbotszonen an besonders kriminalitätsbelasteten Orten und ein mögliches Messer-Verbot im öffentlichen Personennahverkehr bekam diese Tatwaffe besondere Aufmerksamkeit bei der Vorstellung der Kriminalstatistik. Im vergangenen Jahr gab es in Berlin 3.317 erfasste Fälle mit Messern als Tatmittel (+19,4). Dabei ist es allerdings wichtig zu betonen, dass dies gemäß der bundesweiten Definition auch alle Taten umfasst, bei denen der Messereinsatz nur angedroht und nicht ausgeführt wurde.
Knapp 14 Prozent der Fälle mit Messern als Tatmittel fanden an besonders kriminalitätsbelasteten Orten statt, 5,4 Prozent im ÖPNV. Besonders betroffene Bezirke waren Mitte, Marzahn-Hellersdorf, Neukölln und Spandau. Insgesamt wurden 15 Menschen tödlich verletzt, diese Zahl unterschied sich nur leicht von den Werten der beiden Vorjahre.
Wer sind die Tatverdächtigen?
Die eindeutige Antwort: hauptsächlich Männer. Bei den erfassten Straftaten insgesamt waren es knapp 75 Prozent, bei den Messer-Straftaten 86 Prozent und wenn in der Kategorie Raub sogar mehr als 92 Prozent.
Neben dem Geschlecht unterscheidet die Kriminalstatistik auch nach "Deutsche/Nichtdeutsche". Rechnet man ausländerrechtliche Verstöße heraus, die Deutsche nicht begehen können (also etwa unerlaubter Aufenthalt im Land), machten Nicht-Deutsche knapp 42 Prozent der Tatverdächtigen aus. Dies ist deutlich mehr als ihr Anteil an der Bevölkerung in Berlin (22,6 Prozent). Allerdings wohnte von diesen Menschen jeder Fünfte gar nicht in Deutschland, sondern war ein sogenannter reisender Tatverdächtiger.
Starke Zuwächse bei Kindern und Jugendlichen
Besonders auffällige Sprünge nach oben verzeichnete die Kriminalstatistik im vergangenen Jahr bei den jüngsten Tatverdächtigen: Plus 34 Prozent bei Kindern bis einschließlich 13 Jahren, plus knapp 28 Prozent bei den 14- bis 17-Jährigen. Sie fallen verstärkt mit sogenannten Rohheitsdelikten wie Körperverletzung oder Raub auf, wie Innensenatorin Iris Spranger sagte: "In der Altersgruppe der Kinder konnten wir im Zehnjahresvergleich bisher keinen vergleichbar hohen Wert feststellen, bei den Jugendlichen wurde der diesjährige Wert nur im Jahr 2013 übertroffen."
Auch bei den Messerstraftaten sind die Zuwächse bei Kindern (+64 Prozent, 153 Fälle) und Jugendlichen (+60, 397 Fälle) enorm. Die Polizei sieht als Gründe dafür unter anderem die leichte Verfügbarkeit von Messern sowie gruppendynamische Prozesse, in denen die jungen Leute angeben wollten. Solche Jugendgewalt werde häufig untereinander ausgetragen, auch die Opfer seien häufig noch im Jugendalter.
Der grüne Innenexperte Vasili Franco forderte als Reaktion auf die hohen Zahlen, die sozialen Auswirkungen der Coronapandemie auf Kinder und Jugendliche wissenschaftlich noch genauer in den Blick zu nehmen.
Ganz oben auf der To-do-Liste
Mit Blick auf gestiegen Quoten bei Kindern und Jugendlichen hieß es auf der Pressekonferenz sowohl von Innensenatorin Spranger als auch von Polizeipräsidentin Slowik, dieses Thema werde in diesem Jahr ein Schwerpunkt der Arbeit sein. Sie verbanden dies mit dem Hinweis auf bereits bestehende Präventionsprogramme sowie den Jugendgipfel im März, auf dem als Reaktion auf die Ausschreitungen in der Silvesternacht weitere Schritte beschlossen worden waren.
Der Kampf gegen Jugendgewalt sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, betonte Innensenatorin Spranger, die die Polizei nicht allein bewältigen könne. Elternhäuser, Schulen und Vereine müssten mithelfen.
Spranger setzte demonstrativ noch einen weiteren Punkt auf ihre To-do-Liste für 2023: Sie will Gewalt gegen Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr, wie sie nicht nur in der Silvesternacht stattfand, schärfer ahnden. Über die Innenministerkonferenz, deren Vorsitz Berlin in diesem Jahr innehat, möchte Spranger erreichen, dass Widerstandshandlungen und tätliche Angriffe in Zukunft grundsätzlich als "Angriff auf die Rechtsordnung" gewertet werden. Dann wären bei einer Verurteilung keine Bewährungstrafen mehr möglich.
Sendung: rbb24 Abendschau, 21.04.2023, 19:30 Uhr