Interview | Tag der Geschwister - "Geschwister sind so unterschiedlich wie zwei zufällig auf dem Spielplatz ausgewählte Kinder"
Sie können nerven und Halt geben, mitunter triggern sie auch in Erwachsenen alte Kindheitsmuster: die eigenen Geschwister. Wie man dafür sorgen kann, dass man sich gut versteht, und welche Rolle die Eltern dabei spielen, erklärt eine Expertin.
rbb|24: Hallo Frau Schmidt. Könnten Sie bitte folgenden Satzanfang beenden: "Geschwister-Beziehungen sind ..."
Nicola Schmidt: ... etwas sehr Wertvolles. An ihnen dürfen wir aber tatsächlich ein Leben lang arbeiten.
Was macht eine gelungene Geschwisterbeziehung aus? Geht es da viel um Ähnlichkeit oder eher um den Umgang miteinander?
Es geht vor allem um den Umgang miteinander. Denn Geschwister sind so unterschiedlich wie zwei zufällig auf dem Spielplatz ausgewählte Kinder. Man muss sich das klarmachen: Da zwingt man Menschen in eine WG mit jemandem, den sie sich nicht ausgesucht haben und der oder die beliebig unterschiedlich und anders geartet sein kann. Das heißt, eine gelungene Geschwisterbeziehung entsteht immer durch einen respektvollen und wertschätzenden Umgang miteinander. Meine Botschaft an Eltern ist, dass Geschwister sich nicht lieben müssen. Denn Liebe kann man nicht erzwingen. Aber Geschwister können lernen, einander zu respektieren.
Gibt es günstige oder ungünstige Konstellationen?
Ja. Allerdings anders, als man sich das so vorstellt. Die meisten Menschen denken, dass bestimmte Konstellationen - wie große Schwester mit kleinem Bruder oder umgekehrt - besonders gut funktionieren. Das lässt sich durch Studien allerdings nicht belegen. Man weiß, dass die Anfangszeit umso schwieriger wird, je näher die Kinder aneinander sind. Obwohl man oft denkt, dass man die Kinder schnell hintereinander bekommen sollte, weil sie dann gut miteinander spielen können. Das ist auch vielleicht so - wenn man die ersten drei Jahre gut übersteht.
Außerdem passen bestimmte Temperamente nicht gut zusammen. Wenn ein Kind, das viel Ruhe braucht und viel für sich sein möchte, ein sehr wildes Geschwisterkind bekommt, passt das nicht gut. Und dann wird es schwierig.
Wie viel Einfluss haben Eltern und wieviel Einfluss sollten sie überhaupt nehmen?
Eltern haben sehr großen Einfluss auf die Beziehung zwischen Geschwistern. Und sie sollten auch Einfluss darauf nehmen. Vielfach ist zu hören, die Eltern sollten sich nicht zu viel einmischen, weil die Kinder das Meiste unter sich regeln. Das ist aber tatsächlich nicht der Fall. Insbesondere, wenn die Kinder klein sind, hat man im Prinzip Schimpansen im Haus, die mit Empathie noch nicht viel am Hut haben. Sie müssen erst lernen, respektvoll, empathisch und konstruktiv miteinander umzugehen.
Gleichzeitig gibt es Dinge, die Eltern auf keinen Fall machen sollen, die sie aber leider oft machen. Eltern vergleichen ihre Kinder beispielsweise sehr viel. "Schau mal, dein Bruder hat schon seine Schuhe an", heißt es da. Oder: "Kuck mal, wie schön deine Schwester das gemalt hat". Dadurch erzeugen wir Rivalität, die wir eigentlich gar nicht gebrauchen können.
Eltern sollten wissen, dass sie unglaublich viel dazu beitragen können, dass Geschwister sich vertragen. Und dass man niemanden dazu bringen kann, einen anderen Menschen zu lieben. Man muss nicht immer nett sein, sondern man muss auch als Kind den Raum haben zu sagen, dass man seinen Bruder oder seine Schwester heute total blöd findet. Dann kann man auch zulassen, dass er oder sie an einem anderen Tag gar nicht mehr so blöd und viel besser ist. Das ist die Basis für eine lebenslange Geschwisterbeziehung. Denn auch erwachsene Geschwister können sich wirklich total doof verhalten. Wer dann als Kind gelernt hat, das Verhalten desjenigen doof zu finden und nicht den Menschen, kann eine tragfähige Geschwisterbeziehung führen.
Kommen Geschwister, die sich als Kinder gut verstanden haben, erfahrungsgemäß auch als Erwachsene gut aus?
Pauschal kann man das nicht so sagen. Wer sich als Kinder um die primären Bezugspersonen gestritten hat, dem geht es als Erwachsene ja anders und sie können sich auch gut verstehen. Genauso gut kann es sein, dass man sich als Kinder gut verstanden hat, sich aber als Erwachsene so weit auseinanderentwickelt hat, dass man sich nichts mehr zu sagen hat.
Inwiefern können Erwachsene – außer in Extremsituationen bei zu pflegenden oder sterbenden Eltern – von Geschwistern profitieren?
Wenn man erwachsene Menschen mit Geschwistern befragt, ob sie lieber ein Einzelkind gewesen wären, sagen nur drei Prozent dazu ja. Die meisten fanden es also gut, Geschwister zu haben. Wir wissen, dass 37 Prozent sich vor allem bei Familienfesten sehen. Aber fast ein Viertel aller Erwachsenen, die Geschwister haben, sehen diese mindestens ein Mal pro Monat. Jeder Fünfte trifft sich sogar einmal pro Woche oder mehr. Das heißt, die meisten Erwachsenen profitieren davon, Geschwister zu haben. Was sie machen, wenn sie sich sehen? Sie helfen sich gegenseitig in Krisen und mit den alternden Eltern. Aber sie beraten sich auch und meistern die Themen des mittleren Alters miteinander, die so anstehen. Also Karriere, Wohnsituation, Kinder und Partnerschaft.
Gibt es Dinge, die man tunlichst im Umgang mit seinen Geschwistern vermeiden sollte?
Wettbewerb unter Geschwistern ist immer Gift. Es ist sehr viel sinnvoller anzuerkennen, dass man unterschiedlich ist. Man sollte auch nicht davon ausgehen, dass man dadurch, dass man ja Familie ist, es schon irgendwie funktioniert. Im Unterschied zu Freundschaften, die man pflegen muss, ist Familie natürlich tatsächlich erst einmal einfach da. Aber eine gute Familienbeziehung ist auch etwas, was man pflegen muss. Es müssen Konflikte gelöst werden. Man muss einander verzeihen und akzeptieren, dass der andere eine andere Meinung hat und einen anderen Weg geht. Und gerade wenn das in der Kindheit schon angefangen hat, muss man aufhören, sich zu vergleichen.
Was sollten erwachsene Geschwister tun, die miteinander auskommen wollen, aber immer wieder in alte Streitmuster verfallen?
Das ist ja im Prinzip dasselbe wie in jeder anderen Beziehung. Erst sollte man sich fragen, was das Muster ist, wann es auftritt und worauf man anspringt. Spannend ist auch die Frage, was darunter liegt. Also was einen so triggert, dass man nicht aus dem Streit geht, wenn man merkt, dass es losgeht. Da geht es oft um ganz alte Themen.
Wenn man sich dann bewusst macht, dass man nicht mehr fünf Jahre alt ist und es nicht mehr darum geht, wer den tolleren Geburtstagskuchen bekommt oder den Spielzeugbagger, kann man sich auch wieder wie ein erwachsener Mensch verhalten. Wir streiten uns oft, weil wir uns verhalten, als wären wir immer noch Kinder. Aber jetzt sind wir nicht mehr abhängig. Wir sind selbständig und groß. Deshalb kann man versuchen, ganz entspannt zu sagen: "Hey, darüber müssen wir nicht streiten. Lass uns das Thema mal wechseln."
Und wer das nicht schafft, geht mit seinem Bruder oder seiner Schwester zur Paartherapie?
Wenn alle dafür offen und bereit sind: na klar. Am Ende ist es aber oft so, dass wir, wenn wir uns selbst ändern, ganz viel in Beziehungen ändern können. Wenn man für sich entscheidet, nicht mehr auf einen Trigger oder ein Muster anzuspringen, läuft auch die etwaige Aggression des anderen ins Leere.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess.
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