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Audio: rbb24 Inforadio | 12.01.2024 | Jenny Barke mit Wolfgang Thierse und Martin Patzelt | Quelle: dpa/Stefan Jaitner

Interview | Rechtsextremismus in Deutschland

"Herr Thierse, Herr Patzelt, sind die Menschen zu bequem für die Demokratie geworden?"

Nach der "Correctiv"-Recherche geht eine Empörungswelle durch Deutschland. Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und Ex-OB von Frankfurt (Oder) Martin Patzelt diskutieren darüber, was daraus für die Demokratie folgt.

rbb|24: Herr Thierse, Herr Patzelt, Sehen Sie unsere Demokratie aktuell in Gefahr?

Wolfgang Thierse: Es gibt wirkliche Gefährdungen. Wir sehen Rechtsextremismus, wir sehen Rechtspopulismus, wir sehen eine dramatische Wut und Enttäuschung bei vielen Bürgern, die gar nicht mehr genau hinschauen, was Politiker tun, was Politik überhaupt kann, worin die Veränderungen und die Herausforderungen bestehen. Also das ist schon eine schwierige Situation, in der sich unsere Demokratie befindet. Und das gilt übrigens nicht nur für unser Land. Schauen wir ringsum. Es ist in allen Demokratien die gleiche Grundsituation.

Martin Patzelt: Ich sehe das ganz ähnlich. Die Achillesferse einer Demokratie ist die Mehrheit. Und es kann einem schon bange werden, wenn Mehrheiten von Emotionen oder starken Emotionen bewegt werden und nicht mehr von Rationalität. Rationalität heißt, dass ich wissenschaftliche Erkenntnisse und politische Handlungsmöglichkeiten erkenne und einsehe und mich dann einordne in ein gesamtgesellschaftliches miteinander leben. Wenn das nicht mehr der Fall ist, sehe ich große Gefahren.

Martin Patzelt war bis 2010 Oberbürgermeister von Frankfurt/Oder, bis 2021 als CDU-Politiker Mitglied im Deutschen Bundestag, hat sich in der Flüchtlingshilfe engagiert und 2015 zwei Asylbewerber aufgenommen. | Quelle: dpa/Krick

Den "Correctiv"-Recherchen zufolge haben im November Rechtsextreme, einflussreiche Unternehmer und AfD-Politiker und CDU-Politikerinnen aus der besonders konservativen Werteunion über ein sogenanntes "Remigrationskonzept" diskutiert. Man sollte es klar benennen: Es sollte um die Deportation von Ausländern, Menschen mit Migrationsgeschichte, aber auch Flüchtlingshelfern aus Deutschland gehen. Hat Sie die Recherche, also das Treffen und das Ziel überrascht?

Patzelt: Überrascht hat es mich nicht. Es hat mich auch nicht verwundert, weil es klar ist, das Gleich und Gleich sich gern gesellt. Und dass man vor Wahlen versucht, gemeinsame Standpunkte zu finden, zu formulieren. Aber es hat mich erschreckt. Dass man so konsequent und unbeirrt von öffentlicher Diskussionen und Kritik es auch nicht mehr verheimlicht, sondern konsequent diesen Weg weitergeht.

Thierse: Ich war schon erschrocken, und ich bin dankbar über diese Aufklärung, die da passiert. Da wird etwas an konkreten Fall sichtbar, was wir schon wissen konnten. Dass die AfD eben nicht nur eine rechtspopulistische Partei ist, eine Partei der Unzufriedenen, sondern eine Partei, die rechtsextremistisch ist. Ich hoffe, dass viele das mitbekommen, dass sich hier Verfassungsfeinde, Menschenfeinde zusammentun. Denn was die planen, ist schlicht menschenfeindlich und richtet sich auch gegen das Grundgesetz, gegen unsere Demokratie.

Wolfgang Thierse war bis 2005 Bundestagspräsident und ist bis heute gesellschaftspolitisch aktiv, macht sich stark gegen rechts, ist engagierter Katholik und bringt sich ein in seine Partei SPD. | Quelle: dpa/Kalaene

Es geht ja auch um Politiker aus Brandenburg, der stellvertretende Potsdamer AfD-Kreisvorsitzende Tim Krause war eigenen Angaben zufolge dabei.

Die AfD kommt aktuellen Umfragen zufolge in Sachsen, Thüringen und Brandenburg auf über 30 Prozent der Wählerstimmen – in allen drei Bundesländern wird dieses Jahr gewählt.

Glauben Sie, dass bis zu einem Drittel der Bevölkerung tatsächlich Pläne befürwortet, Menschen zu deportieren?

Thierse: Ich bin nicht so sicher. Ich glaube nicht, dass alle AfD-Wähler oder Sympathisanten, dass sie in der gleichen Weise Menschenfeinde sind. Sie tragen ihre Wut und ihren Ärger dort hin. Aber genau die müssen auch wissen, dass, wenn sie dort ihren Ärger hintragen, was sie damit anrichten.

Die Globalisierung, der demografischen Wandel, die Migrationsbewegungen, die ökologischen Herausforderungen sind dramatische Herausforderungen. Dass dann Menschen unsicher sind und Ängste haben, unzufrieden sind mit der Politik, von der sie Wunder erwarten, kann ich gut verstehen. Aber sie müssen doch wissen, dass, wenn sie das in die AfD tragen, was sie damit anrichten. Die AfD hat keinerlei Konzept außer Grenzen dicht machen, Grenzen dicht machen, raus, Menschen rausschmeißen.

Herr Patzelt, Sie kennen ja viele Menschen in Brandenburg. Kann man das noch als Protestwahl bezeichnen?

Es ist eine schwer erkennbare Melange, die sich da zusammengefunden hat. Ich habe angesichts der Demonstranten in der Landwirtschaft auch bemerkt, dass sich viele dem Protest angeschlossen haben, weil sie ihre Probleme mit dort unterbringen wollten, teils mit ganz unterschiedlichen Interessen. Denn wenn man dem einen Geld gibt, nimmt man es dem anderen wieder weg.

Zusammen gegen eine Regierung zu protestieren, die versucht, das Beste aus der Situation zu machen, das macht mir auch Sorgen. Die Menschen, mit denen ich spreche, tun das immer wieder ab, sagen, dass sie in keinster Weise rechtsradikal sein wollen und schon gar nicht faschistisch. Aber ich sage dann immer: 'Sage mir, mit wem du gehst, dann sage ich dir, wer du bist!'.

Wissen Sie, wir verderben uns ganz einfach unsere Zukunft, wenn wir solchen Ideen folgen.

Wie erreicht man Menschen mit dem, was Sie gerade sagen?

Patzelt: Ich habe das immer versucht, indem ich nicht Eigenschaften etikettiert habe bei anderen, sondern habe immer versucht, genau das Problem in die Mitte unseres Gesprächs zu bringen. Ich könnte mir vorstellen, wenn man viel mehr miteinander und den Menschen redet, Aufklärung betreibt, sie einlädt und nicht diffamiert, sondern sagt: 'Ja, wir verstehen eure Ängste, aber bitte überlegt euch, wohin euch eure Ängste führen können!'.

Ich will nicht immer gleich die große Keule herausholen. Aber Hitler hat ja auch in einer historisch sehr schwierigen Situation für die Bevölkerung eine Zustimmung von der Mehrheit bekommen. Das war eine demokratische Entscheidung! Wie schnell können wir in eine ganz furchtbare Situation geraten, wenn wir uns von unseren Ängsten treiben lassen. Angst ist immer ein schlechter Berater und gemeinschaftliches Leben heißt, dass ich an bestimmten Stellen auch mal zurücktrete mit meinen Ansprüchen und Bedürfnissen.

Um dieses Miteinander wieder mehr zu stärken, hat Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang am Donnerstag im Kontraste-Interview die "schweigende Mehrheit" in der Gesellschaft aufgefordert, wieder mehr für die Demokratie einzustehen.

Würden Sie diese Beschreibung der Gesellschaft unterschreiben, handelt es sich bei den zwei Drittel Menschen, die nicht die AfD wählen, um eine schweigende Masse?

Thierse: Ach wie auch immer man das nennt. Es ist wichtig zu wissen, dass die Verteidigung der Demokratie nicht nur Sache der sogenannten Profis ist, derer da oben, der Politiker, der Regierung, der Parlamentarier oder der Justiz und der Polizei, sondern Sache der Zivilgesellschaft, der demokratischen Bürger und Stimme.

Ich stimme Herrn Patzelt zu: Von Kollege zu Kollege, von Verwandten zu Verwandten, von Gemeindemitglied zu Gemeindemitglied zu diskutieren über die Konflikte, Ärgernisse, die Kritik, die Unzufriedenheit, die Ängste - das ist wichtig.

Und dann ist es wichtig, aufzuklären, was für eine verlogene Partei die AfD ist. Beispiel Bauernproteste: Die AfD ist gegen Subventionen, plädiert für deren Streichung. Und kaum sind Bauernproteste, verlangen sie, dass subventioniert wird. Und so geht das bei fast allen Politikfeldern. Diese Art des aufklärenden und zugleich mitfühlenden Gesprächs ist wichtig.

Nicht hinnehmen, achselzuckend, dass die AfD in drei ostdeutschen Bundesländern stärkste Partei ist. Ich schäme mich als Ostdeutscher. Wir wollten die Demokratie, aber doch nicht dafür, dass jetzt Rechtsextremisten und Verfassungsfeinde, Menschenfeinde gewählt werden!

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Schauen wir mal von der AfD weg. Herr Patzelt, Sie selbst sind in der Flüchtlingshilfe sehr engagiert. Wie geht es dann den Menschen, die sie persönlich aufgenommen haben, und anderen Flüchtlingen, mit denen sie Kontakt haben bei solchen Meldungen?

Zunächst möchte ich sagen, dass ich auch der Auffassung bin, wir können nicht die ganze Welt aufnehmen. Also das will ich vorstellen, damit ich nicht als blauäugig erscheine.

Aber die Menschen, die hierher kommen, verdienen als Menschen behandelt zu werden. Und dann, und das sage ich wieder außerhalb von moralischen Kategorien, ergeben sich oft Win-Win-Situationen. Die Flüchtlinge, die wir begleitet haben, haben Glück gehabt. Die sind heute ausgebildete Automechaniker, die wir dringend brauchen für die Versorgung unserer Gesellschaft.

Wie ist die Reaktion nach der Recherche?

Einer wohnt ja noch bei uns, der ist nach fünf Jahren ein Familienmitglied. Er und auch der andere, den ich dazu kontaktiert habe, die haben jetzt Angst. Ich bemühe mich, das dann zu relativieren, zu sagen, das sind nur Ideen von einigen wenigen, die sind gefährlich.

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Was braucht es denn, damit die Bevölkerung wieder mehr das Miteinander pflegt?

Thierse: Ja, die Widersprüche sind erheblich. Das hat etwas mit der Gleichzeitigkeit von Krisen und Herausforderungen in unserer Gesellschaft zu tun und dem Umstand, dass von Menschen mehr als in den vergangenen Jahrzehnten verlangt wird, sich auf die veränderten Verhältnisse einzustellen.

Wir Deutschen, die Westdeutschen noch viel länger als die Ostdeutschen, sind es gewohnt, dass es immer ein Mehr an Wohlstand und wirtschaftlichem Wachstum gegeben hat. Jetzt leben wir in einer sich radikal wandelnden Welt, das ist eine Zumutung. Dass Menschen dabei Überdruss und eine Veränderungsabwehr empfinden, kann ich gut nachvollziehen.

Das ist eine wirkliche politische Aufgabe: Dass es im Wandel Sicherheit gibt, dass es gerecht zugeht bei der Verteilung von Lasten und Schmerzen. Aber auch da gibt es nicht Wunder.

Patzelt: Ich würde sagen: Zahlen, Daten, Fakten und dann vergleichen, wem kann man was zumuten? Also bei den Bauern zum Beispiel: Die großen Investoren, die große Landflächen aufgebaut haben und sehr viel Profit machen mit der Bearbeitung, die können vielleicht andere Streichungen für Subventionen vertragen als die Kleinbauern, die wir uns erhalten wollen, die auch zu unserer Kultur gehören.

Sind die Menschen zu bequem für die Demokratie geworden?

Thierse: Ach, so allgemeine Vorwürfe helfen nicht. Aber ich war die letzten zwei Wochen zweimal bei Demonstrationen gegen Antisemitismus. Und ich war tieftraurig und beschämt, wie wenig wir waren angesichts dessen, was an Antisemitismus in unserem Land auch wieder sichtbar geworden ist, nach dieser Bluttat vom 7. Oktober in Israel. Und da wünsche ich mir schon mehr, dass unsere Bürger ihr Gesicht zeigen, dass sie zeigen, Demokratie und Humanität, das ist unsere Sache!

Patzelt: Dabei entsteht auch ein Gemeinschaftsgefühl! Ich habe das bei Demonstrationen auch immer wieder so erlebt. Auf einmal fühlt man sich Menschen nahe, die man gar nicht kannte. Auf einmal weiß man sich doch geborgen in einer Gemeinschaft, die für das, was unser Leben lebenswert macht und wichtig und hilfreich ist, ist einem der Andere auf einmal ganz nah. Also insofern diese öffentliche Demonstration genauso wie die Suche nach Gemeinsamkeiten in den individuellen Gesprächen, die wäre schon ein Weg und nicht alles auf die Politik verlagert, ist ja ohnmächtig und schwankt dann hin und her.

In Sachsen, Thüringen und Brandenburg wird im September gewählt. Die AfD wird möglicherweise überall an der Spitze stehen. Wo steht denn unsere Gesellschaft, unsere Demokratie nach diesen Wahlen?

Thierse: Ich hoffe, dass wir, dass die Demokraten zeigen, dass sie die deutliche Mehrheit in diesem Land sind. Und dass die Ostdeutschen zeigen, dass der Rechtsextremismus und die Ausländerfeindlichkeit kein ostdeutsches Problem sind, sondern dass wir uns der friedlichen Revolution von 1989/90 würdig erweisen.

Patzelt: Ich hoffe und wünsche mir natürlich auch von ganzem Herzen, dass wir Wahlergebnisse haben, die ein vernünftiges Weiterregieren ermöglichen werden. Aber ich glaube, wir müssen auch die Desillusionierung der AfD ganz wesentlich weiter vorantreiben durch unsere Öffentlichkeitsarbeit, durch unsere Gespräche.

Die AfD und die ihnen verbundenen Menschen haben ja überhaupt keine Alternative für die Bewahrung der Schöpfung, unseres Zusammenlebens. Sie sind einfach dagegen und populistisch. Wir müssen transparent machen, wie wenig Substanz diese Politik und diese Werte haben für unsere Zukunft, die wir uns alle wünschen.

Jenny Barke führte das Gespräch. Bei dem Text handelt es sich um eine gekürzte und redigierte Fassung des Interviews. Das vollständige Audio können Sie nachhören in der rbb24 Inforadio App oder oben im Artikel.

Sendung: rbb24 Inforadio, 15.01.2024, 10:45 Uhr

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