Interview | Reform Paragraf 218 - "Die Botschaft ist: Was du tust, ist eigentlich verboten"

Sa 07.12.24 | 08:13 Uhr | Von Birgit Raddatz
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Archivbild: Eine junge Frau sitzt in Berlin in einem Beratungsgespräch in einer pro familia-Niederlassung. (Quelle: dpa/Britta Pedersen)
Audio: rbb24 Inforadio | 07.11.2024 | Birgit Raddatz | Bild: dpa/Britta Pedersen

Eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten will Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche legalisieren und die Beratungspflicht erhalten. Im Interview erklärt eine Pro-Familia-Beraterin, was sich ihrer Ansicht nach für ungewollt Schwangere ändern würde.

Aktuell wird im Bundestag hitzig über eine Reform des Paragrafen 218 debattiert. SPD, Grüne und Linke fordern mehrheitlich eine Reform, die Abtreibungen in den ersten zwölf Wochen legalisieren würde. Union und AfD lehnen eine Reform ab, die FDP mahnt zur Vorsicht und warnt vor einer übereilten Debatte.

Eine von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission hatte sich bereits für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts ausgesprochen.

Der neue fraktionsübergreifende Gesetzentwurf sieht vor, dass Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche grundsätzlich nicht mehr strafbar sind. Die Beratungspflicht soll bestehen bleiben, aber die derzeit verpflichtende dreitägige Wartezeit zwischen Beratung und Abtreibung soll gestrichen werden. Zudem ist geplant, dass die Kosten für Abtreibungen vollständig von den Krankenkassen übernommen werden. Ob der Gesetzentwurf beschlossen wird, ist noch offen. Jutta Pliefke von Pro Familia in Berlin sieht vor dem Hintergrund ihrer Beratungsarbeit Handlungsbedarf.

Zur Person

Jutta Pliefke ist Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe. Sie arbeitet als Beraterin bei der Pro Familia in Berlin-Schöneberg.

rbb: Frau Pliefke, Sie kennen die Situation zahlreicher schwangerer Klientinnen aus der Beratung bei Pro Familia. Was würde die Reform des Paragrafen konkret ändern?

Eine ganze Menge. Im Moment muss eine Person, die ungeplant schwanger ist, eine regelrechte Odyssee auf sich nehmen: mit vielen Terminen, die sie vereinbaren muss, Adressen, die sie sich suchen muss, Fristen, die sie einhalten muss, Scheinen und Bescheinigungen, die sie besorgen muss. Das ist einfach so zeitaufwändig und belastend, dass viele Personen es gar nicht schaffen, sich mit ihrer Situation auseinanderzusetzen. Das würde sich ändern. Davon abgesehen gibt es eine große Verunsicherung, weil sich viele Schwangere kriminalisiert fühlen.

Durch eine Reform könnte sich aber auch die Situation für die Ärztinnen und Ärzte verbessern, die überlegen, Schwangerschaftsabbrüche anzubieten. Für die ist es im Moment eine sehr komplizierte Situation: In jedem Bundesland gibt es andere Regelungen, welche Papiere nötig sind und welche Qualifikation sie nachweisen müssen. Das ist so kompliziert, dass viele sich damit nicht beschäftigen wollen.

Bislang mussten zwischen dem Ausstellen der Beratungsbescheinigung und dem tatsächlichen Schwangerschaftsabbruch drei volle Kalendertage liegen, das soll sich künftig ändern. Warum werden diese drei Tage als ausschlaggebend angesehen?

Die Drei-Tage-Regel bedeutet für die ungeplant schwangere Personen oft, dass sich der Schwangerschaftsabbruch um eine Woche verschiebt, weil man ja immer das Wochenende einrechnen muss. Das ist eine große Belastung für die Klientin, wenn sie ihre Entscheidung bereits getroffen hat. Und es ist auch aus medizinischer Sicht nicht einfach, denn je später der Abbruch erfolgt, umso schwieriger wird es. Ein Termin in der Beratungsstelle wäre auch nach der Reform weiterhin vorgegeben, aber es würde eben mehr Flexibilität geben.

Was würde die Gesetzesänderung für ihre Beratung bedeuten?

Für viele Menschen ist die ungewollte Schwangerschaft eine krisenhafte Situation. Es gibt viel abzuwägen, zu unterstützen und viele Dinge im Leben zu betrachten, um eine Entscheidung zu finden, mit der die Menschen langfristig gut zurechtkommen. Das ist der Anspruch, den wir haben.

Derzeit ist es so, dass manche von vornherein mit einer gewissen Blockade in die Beratung gehen, was absolut verständlich ist. Sie fragen sich: Was muss ich denn jetzt sagen, dass ich auch dieses Papier [Beratungsbescheinigung, auch Beratungsschein, der bestätigt, dass die Schwangere eine Schwangerschaftskonfliktberatung in Anspruch genommen hat, Anm.d.Red] kriege? Muss ich mir Gründe ausdenken? Kann ich ehrlich sein und auch Zweifel offenlegen? Wir würden uns wünschen, dass sie ganz offen zu uns kommen können und sich einfach beraten lassen würden.

Mit einem neuen Gesetz müssten die Personen nicht das Gefühl haben, irgendwas Bestimmtes sagen zu müssen, um eine Bescheinigung zu kriegen.

Das klingt, als würde eine gewisse Angst mitschwingen, sich strafbar zu machen?

Diese Kriminalisierung schwingt, denke ich, immer mit. Das Wissen, dass es da einen Paragrafen gibt im Strafgesetzbuch. Für viele Frauen fühlt sich ihre Lage wie eine große Ausnahme an und es macht etwas mit ihnen, wenn sie sich vor Augen führen, wie die Gesellschaft mit dem Thema umgeht. Die Botschaft ist: Was du tust, ist eigentlich verboten und bleibt nicht ohne Folgen.

In dem medizinischen Angebot scheint es ein Stadt-Land-Gefälle zu geben. Außerhalb von Berlin kann es mitunter schwierig sein, eine Praxis zu finden, die Schwangerschaftsabbrüche anbietet.

Das stimmt, in Berlin ist es so, dass wir in dem Bereich eine gute Versorgung haben, weil es ein teils sehr engagiertes ärztliches Netzwerk gibt, in dem sich Medizinerinnen und Mediziner mit ihren Fragen austauschen können. Auf dem Land ist das anders, da ist die Unsicherheit bei niedergelassenen Ärzten und Ärztinnen oft größer. Außerdem existieren je nach Bundesland auch sehr unterschiedliche Vorgaben für die Arztpraxen. Die Medikamente werden über sogenannte Sondervertriebswege zur Verfügung gestellt. Über jede einzelne Tablette müssen komplizierte Dokumentationen erstellt werden. Das ist wirklich kompliziert. Insofern wäre es eine Vereinfachung, wenn eine Abrechnung als medizinische Leistung möglich wäre.

Wenn der Schwangerschaftsabbruch als regulärer Teil der medizinischen Ausbildung und der fachärztlichen Weiterbildung betrachtet wird, dann würde das auf der ärztlichen Seite viele offene Fragen beantworten.

Es hat in den vergangenen Jahren vor Beratungsstellen und Kliniken immer wieder Protest-Aktionen von Abtreibungsgegnern gegeben, die Frauen abgefangen und auf sie eingeredet haben. Seit einigen Wochen nun sind "Gehsteigbelästigungen" gesetzlich verboten. Macht sich das Verbot auch für Pro Familia bemerkbar?

In Berlin waren wir tatsächlich nur sehr wenig davon betroffen. Ich weiß aber von Kolleginnen bei Pro Familia in anderen Städten und von Ärzt:innen, die zum Beispiel in Pforzheim leben und arbeiten, dass wirklich sehr oft Gruppen vor der Beratungsstelle und vor der medizinischen Einrichtung standen. Für die ist es eine große Erleichterung, dass das jetzt verboten ist und in Zukunft nicht mehr passieren wird.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Birgit Raddatz, rbb24 Inforadio

Hintergrund zu Paragraf StGB 218

Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland durch den Paragrafen 218 im Strafgesetzbuch geregelt. Eingeführt wurde das Gesetz im Jahr 1871. Ursprünglich sah es eine Zuchthausstrafe von fünf Jahren für Frauen vor, die vorsätzlich abtrieben.

In den frühen 1900er Jahren gab es Debatten über mögliche Reformen, wobei ein Kompromiss gefunden wurde, der die Zuchthausstrafe abschaffen und das Höchstmaß auf zwei Jahre Gefängnis festsetzen sollte. Durch die NS-Zeit und die Nachkriegszeit hinweg blieb der Paragraf 218 bestehen, wobei Abtreibungen unter bestimmten Bedingungen straffrei blieben.

Heute steht der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland immer noch grundsätzlich unter Strafe - ist aber in den ersten zwölf Wochen straffrei, wenn Frauen sich vorher beraten lassen und zwischen der Beratung und dem Schwangerschaftsabbruch drei Tage vergehen. Krankenkassen übernehmen die Leistung nicht.

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Sendung: rbb24 Abendschau, 07.12.2024, 19:30 Uhr

Beitrag von Birgit Raddatz

99 Kommentare

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  1. 99.

    Nun, in diesem Fall fehlt es der hiesigen Rechtssprechung bezüglich des § 218 an der Allgemeingültigkeit innerhalb der EU, und dass ist für alle betroffenen Frauen gut so. Siehe auch das Beispiel "Polen", dass noch restrektiver ist.

  2. 98.

    Jutta Pliefke von Pro Familia in Berlin sieht vor dem Hintergrund ihrer Beratungsarbeit Handlungsbedarf.
    So ein Absatz im Artikel.

    Sehr geehrte Frau Pliefke,
    Vielen Dank für das Interview.
    Brachte es mir Klarheit, wo wir als Gesellschaft stehen.
    Auch die Rede im Bundestag zeigte deutlich den Weg, nun endlich zu handeln. Eine Änderung im Strafrecht ist der eine Schritt, der zweite gilt den Familien, die Luft zum Atmen zu geben.

  3. 97.

    Eine Religion begründet sich auf Glauben, und nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse,
    Theologie ist keine Wissenschaft, dd sie sich nicht wissenschaftlicher Erkenntnisse bedient, sondern ein Fach, dass sich der eigene Materie widmet um theologische Wissenschaftstheorien zu entwickeln.

  4. 96.

    Das ist Quark. Es gibt bisher nur die noch aktuelle Rechtsprechung des Verfassungsgerichts. Sie können sich als Staat nunmal nicht darum drücken, klar zu sagen, wo Leben beginnt. Und das das Leben im GG geschützt ist, ist richtig. Wenn eine Frau ohne eine Ermächtigung abtreibt, begeht sie ein Tötungsdelikt. Daher bedarf es einer gesetzlichen Grundlage für eine Abtreibung. Bisher das StGB.

  5. 95.

    Medizin und Theologie sind Wissenschaften. Sie doppeln ja die Begriffe. Und vergessen die Biologie und Jura. Worin besteht der Konsens? Das haben Sie leider nicht gesagt. Und nein, die theologische Sicht ist hier nicht vorherrschend. Und auch insgesamt nachrangig.

  6. 94.

    Nun, es gibt bei diesem Thema eine wissenschaftlich - medizinischen Konsens, oder eine theologisch begründete Sicht, und so kommt es auch innerhalb der EU zu unterschiedlicher gesetzlich geregelter Handhabung mit diesem Thema.

    Da die EU eine Gemeinschaft ist, muss man sich nicht der hiesigen weitgehend theologischen Sicht bedinunslos anschließen, und im Falle einer ungewollten Schwangerschaft kann man ohne Gewissenskonflikt einen Abbruch da vornehmen lassen, wo sich die Gesetzgebung an die Wissenschaft anlehnt.

  7. 93.

    "Nicht die Verantwortung alleine auf die Männer schieben."

    Habe ich die Verantwortung alleine auf die Männer geschoben? Habe ich irgendwo geschrieben, dass Männer alleine dafür verantwortlich wären? Ich habe geschrieben:

    "Richtig, es gehören auch Männer dazu, dass Frauen ungewollt schwanger werden."

    Was ist an dem Wort "auch" falsch zu verstehen und warum machen Sie daraus:

    "Nicht die Verantwortung alleine auf die Männer schieben."

    Ihre Interpretation meines Kommentars ist falsch und es zeigt mir, wie Sie Kommentare lesen und verstehen (wollen).

  8. 92.
    Antwort auf [Soso] vom 08.12.2024 um 10:56

    Es wäre sinnvoll sich mit solchen Äußerungen zurückzuhalten, da immer zwei dazugehören!
    Nicht die Verantwortung alleine auf die Männer schieben. Meinen Sie das BVerfG hat sich damit nicht auseinandergesetzt?
    Und wer si argumentiert wie Sie zeigt, dass Sie es nicht schaffen eine von allen akzeptierte Definition von Leben abzugeben!

  9. 91.

    Richtig, es gehören auch Männer dazu, dass Frauen ungewollt schwanger werden. Sie brauchen jetzt allerdings nicht so zu tun, als hätten Sie irgendein Interesse an der Situation der Frauen. Ihre bisherigen Kommentare zeigen sehr deutlich, dass Ihr vorrangiges Interesse dem des Embryos dient. Dass Frauen so gut wie nie solch eine Entscheidung leichtfertig fällen werden, auf die Idee sind Sie noch nicht gekommen? Als wenn Frauen schwanger werden und dann solch eine Entscheidung leichtfertig fällen. Ich denke, das ist für die allermeisten eine wirklich schwierige Entscheidung und man(n) sollte es nicht noch schwieriger machen, als es ohnehin schon ist, das ist meine Meinung dazu.

  10. 90.

    Es geht darum, ab wann Leben zu schützen ist. Nur darum geht es. Das darf eben nicht ein einzelner Mensch individuell definieren.

  11. 89.

    Schade!
    Schade, dieses Zeilen lesen zu müssen.
    Spätestens mit Artikel zwölf und zwölf - a wird die Aussage unvollständig. Nun ist dann so.
    In den anderen Beiträgen zeigten Sie deutlich, was Sie vom Leben halten, wie für Sie der Schutz des Lebens begründet ist. Das ist Ihre Sicht auf die Dinge. Das ist Ihre Meinung. Ob Sie vollständig ist? M.E. Nein. Dieses ist meine Sicht.

  12. 88.

    Sie können argumentieren wie Sie wollen, entscheidet sich die Frau für einen Abbruch der Schwangerschaft und eine Abtreibung ist noch möglich, dann ist es ganz alleine ihre Entscheidung.
    Ihre Paragraphen sind vollkommen uninteressant und es hat auch niemanden zu interessieren warum sich die Frau dafür entscheidet.

  13. 86.

    Und da sind wir wieder bei der verfassungswidrigen Fristenlösung. Das BVerfG hat sich aus gutem Grund für die Indikationslösung entschieden, eben um Schwangerschaftsabbruch nicht als Verhütungsmittel zu Lasten der Frau einzusetzen!

  14. 85.

    „Alte weiße Männer“, das zeigt mir, aus welchem Lager Sie kommen. Soweit ich mich erinnere waren an allen drei Entscheidungen des BVerfG auf Richterinnen beteiligt! Gilt für Sie auch das sie alte weiße Männer seien?

  15. 83.

    Ihr Argument kenne ich aus allen drei Debatten. Doch das BVerfG stellt nicht auf das Schmerzempfinden als Definition für Leben ab. Lesen Sie unter BVerfGE 88, 203-366 nach!
    Ihre Argumentation erinnert mich an die Argumentation der Nazis bei der T4-Aktion!

  16. 82.

    Das ist derzeit das StGB. Könnte aber auch komplett im Schwangerschaftskonfliktgesetz geregelt werden. Oder ein eigenständiges Grundrecht auf Abtreibung. Es ist halt zu klären, wie Schwangerschaftsabbrüche für alle Beteiligten komplikationslos ermöglicht werden können, ohne das Recht auf Leben zu missachten.

  17. 81.

    Was har dieser Post mit meinem Hinweis auf den Geltungsbereich des Art 2GG zu tun? Nichts, er zeigt nur, dass Sie nicht im Stande sind sich mit den aus Art 2 GG erwachsenden Rechten auseinanderzusetzen!

  18. 80.

    Natürlich kann der Mensch entscheiden, ob und wie er sich fortpflanzen möchte. Der Natur freien Lauf zu lassen, hat man schon in jeder Hinsicht längst aufgegeben.

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