Interview | Fast jeder zweite in Quarantäne - Wie Neustadt (Dosse) mit einem Verdachtsfall umging

Mi 18.03.20 | 14:54 Uhr
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Die Ortseinfahrt nach Neustadt (Dosse) am 11.03.2020. (Quelle: dpa/Fabian Sommer)
Bild: dpa/Fabian Sommer

Große Teile einer Stadt in Quarantäne, eine lahmgelegte Behörde, die die Bürger zu spät aufklärt: Mehr als zehn Tage harrte Neustadt (Dosse) in diesem chaotischen Zustand aus. Landrat Ralf Reinhardt (SPD) gibt Fehler zu - vor allem in der Kommunikation.

Was Sie jetzt wissen müssen

Fast jeder zweite in Neustadt (Dosse) im Landkreis Ostprignitz-Ruppin befand sich wegen eines Corona-Verdachts mehr als zehn Tage in vorsorglicher Quarantäne. Das Stadtleben kam fast komplett zum Erliegen. Alle Schulen, Internate und ein Hort sind seitdem geschlossen sowie die Bibliothek. Mehr als 2.000 Menschen waren in häuslicher Isolation.

Die besonderen und sehr umfangreichen Maßnahmen in Neustadt/Dosse waren angeordnet worden, weil Vertreter der Neustädter Schulen, des brandenburgischen Bildungsministeriums und der Stadtverwaltung während eines Treffens Kontakt zu einer Berliner Pferdezüchterin hatten, bei der später die Corona-Infektion nachgewiesen wurde. Auch Vertreter von Sportverbänden und eines Gestüts nahmen an dem Treffen teil.

Kritiker warfen den Behörden in Neustadt und im Landratsamt Ostprignitz-Ruppin vor, die Bürgerinnen und Bürger nicht früh genug aufgeklärt und sie in dieser undurchsichtigen Lage alleine gelassen zu haben. Ein Gespräch mit Landrat Ralf Reinhardt (SPD).

rbb|24: Herr Reinhardt, wie geht es den Neustädtern nach der vorsorglichen Quarantäne?

Ralf Reinhardt: Es war eine sehr harte Zeit. Die Situation ist noch immer ungewöhnlich. Niemand hat solche Erfahrungen gemacht, aber die Leute waren diszipliniert. Sie haben sehr viel Verständnis aufgebracht, sich organisiert, in der Nachbarschaft geholfen. Ich bin froh, alle haben die Ausnahmesituation ernst genommen und sich an die Auflagen gehalten.

Archivbild: Ralf Reinhardt (SPD), Landrat des Landkreises Ostprignitz-Ruppin am 11.03.2020. (Quelle: dpa/Fabian Sommer)Ralf Reinhardt (SPD)

Sind sie hingefahren und haben sich ein Bild von der Atmosphäre gemacht?

Es war keine komplette Abriegelung, das muss man deutlich sagen. Die Eltern und Familienangehörigen der Schüler und auch der Lehrer sollten zwei Wochen lang zu Hause bleiben. Alle anderen konnten sich frei bewegen und haben dementsprechend Hilfe leisten können.

Trotzdem war es stark spürbar, dass die Stadt leerer ist und weniger Menschen auf der Straße sind. Diejenigen, die man getroffen hat, haben sich Sorgen gemacht: Wird es gut gehen oder wird uns noch weiteres ereilen? Die Testergebnisse haben gezeigt: Bisher gab es keine Weitergabe der Infektionen.

Sofern wir wissen, sind bei keiner Person Symptome aufgetreten, die in Isolation bleiben musste.

Viele Menschen aus Neustadt (Dosse) kritisierten, sie seien von den Behörden nicht ausreichend informiert worden.

Nicht alle Informationen waren auf den bekannten Wegen sofort übermittelbar. Wir waren auf die Medien angewiesen. Die Zeitungszusteller waren nicht in jedem Fall in der Lage auszutragen.

Wir haben versucht, über die Webseite so schnell wie möglich zu informieren. Auch uns hat die Kenntnis zu Infektionen in Neustadt fünf Tage nach dem Ereignis, an einem Samstagnachmittag, ereilt. Wir mussten am Sonntag entscheiden, dass die gesamte Schule und alle Haushalte zu Hause bleiben müssen. Das ist eine ungewöhnliche Situation, auch wenn die Maßnahme aus anderen Orten bekannt ist. Unsere Hotline, die wir eingerichtet haben, hat gezeigt: Es ist viel Verunsicherung entstanden. Aber wir haben schnellstmöglich versucht, die Anzahl der Hotline-Mitarbeiter zu erhöhen, damit wir das hohe Aufkommen der Nachfragen bewältigen können.

Was eine sehr unglückliche Situation zusätzlich war: An dem Gespräch mit einer infizierten Person hat eine Mitarbeiterin der Amtsverwaltung in Neustadt teilgenommen, sodass der Amtsdirektor in Neustadt seine Verwaltung faktisch lahmlegen und schließen musste. Das musste passieren, um ausschließen zu können, dass keine Infektionsweitergabe stattgefunden hat.

Insgesamt sind viele ungünstige Umstände zusammen gekommen. Das ist aber in der heutigen Lage nicht mehr auszuschließen.

Internet ist vor Ort nicht flächendeckend verfügbar. Informationen über die Webseite sind bei einigen gar nicht angekommen. Ist das ein Anreiz den Breitbandausbau schneller umzusetzen?

Wir sind da am allerweitesten. Wir haben das Bundesprogramm zum Ausbau des Breitbandes im ländlichen Raum schon sehr, sehr früh bedienen können. Wir haben die Aufträge erteilt, und in den Orten sollten in diesen Wochen Einwohnerversammlungen stattfinden. Das konnte dann leider alles nicht mehr durchgeführt werden.

Trotzdem gehen die Maßnahmen weiter. Wir stehen quasi kurz vor dem Ausbau. Und ja, es ist etwas zu früh gekommen. Eigentlich möchte man so was wie einen Infektionsausbruch nie haben. Das Breitbandinternet wird in allen Ortschaften gerade rundum Neustadt in den nächsten Wochen ausgebaut. Nur für die jetzigen vielleicht auch notwendigen schnellen Verbindungen war das noch nicht vorbereitet.

Was ist dann in den Absprachen mit den Gesundheitsbehörden vor Ort schief gelaufen?

Die Schule hat Schüler aus dem gesamten Bundesgebiet, aber auch aus Nachbarlandkreisen von Ostprignitz/Ruppin. Und unser dringender Appell an die dortigen Gesundheitsämter war, genauso zu verfahren wie wir - also die Eltern auch der Schüler mit in die häusliche Isolation zu schicken. Außerdem hat es zu lange gedauert, die Betroffenen des Treffens auf den Virus testen zu lassen. Das ist leider nicht zeitgleich mit unseren Anordnungen umgesetzt worden. Es hat hier noch eines Lern- und Überzeugungsprozesses bedurft, warum in diesem Ausnahmefall eine so weitreichende Maßnahme unsererseits ergriffen worden ist. Es hat Verzögerungen gegeben. Wenn es eine Infektion wirklich in diesem Kreis gegeben hätte, wäre eine Ausbreitung nicht auszuschließen gewesen.

Neustadt (Dosse) hat im kleinen erlebt, was für viele Realität sein wird. Was kann die gesamte Region Berlin-Brandenburg von den Erfahrungen lernen?

Kommunikation ist wichtig. Man muss versuchen, diese auch möglichst einheitlich zu gestalten. Das Schwierigste ist, wenn es verschiedene Informationen, Gerüchte, vielleicht auch unterschiedliche Sichtweisen gibt. Das ist eine große Gefahr. Deutschland ist ein Bundesstaat mit 16 Ländern und über 200 Landkreisen. In dieser dezentralen Struktur tragen alle Verantwortung, was bei vielen Themen förderlich ist, zum Beispiel in der Eigenorganisation.

Allerdings schafft die föderale Struktur bei einer solchen Epidemie Probleme. Ein einheitliches Vorgehen ist absolut erforderlich. Das haben wir in Deutschland und Brandenburg erst jetzt geschafft. Ich hoffe, es ist nicht zu spät. Wir brauchen abgestimmte und vor allem identische Handlungsweisen.

Für die Menschen ist es sehr wichtig, dass sie sich an die Festlegung halten. Wir haben nur noch eine Chance und die besteht darin, die Weitergabe des Virus‘ so weit wie möglich zu verzögern. Das bedarf Disziplin. Die Neustädter haben es vorgemacht. Ich bin sehr froh, dass wir an dieser Stelle noch einmal aufatmen können.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieser Text ist eine gekürzte und redigierte Fassung des Interviews, das Torsten Schröder für Inforadio geführt hat.

Sendung: Inforadio, 18.03.2020, 12:00 Uhr

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2 Kommentare

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  1. 2.

    Neustadt und der LK OPR haben die Erfahrung gemacht, was passieren kann. Weshalb wurde dennoch keine Hotline, wie in anderen Kreisen geschehen, eingerichtet?

  2. 1.

    Unfähig-also entlassen den Landrat.
    Als in China der Virus wütete,kann bein uns nicht so passieren-wird sind hervorragend vorbereitet.
    Ich kann darüber nicht einmal mehr lachen.

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