Herthas Transfersommer - Eine klarere Handschrift, aber immer noch Fragezeichen

Fr 02.09.22 | 17:16 Uhr | Von Marc Schwitzky
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Herthas Geschäftsführer Sport Fredi Bobic (imago images/Jan Huebner)
Bild: imago images/Jan Huebner

Seit mehr als drei Jahren befindet sich Hertha BSC im Dauerumbruch. Auch in diesem Sommer musste Manager Fredi Bobic einen aufgeblähten Kader finanziell abspecken und sportlich in eine klarere Richtung lenken. Die rbb|24-Transferbilanz von Marc Schwitzky

Torhüter

Zur neuen Saison haben die Verantwortlichen entschieden, mit Oliver Christensen auf einen jungen Torhüter zu setzen. Eine Entscheidung für die Zukunft, die in der Gegenwart nicht ganz ohne Risiko ist. Da Rune Jarstein den Verein nach dem Eklat mit Torwarttrainer Andreas Menger noch verlassen wird, stand die Frage im Raum, ob noch ein erfahrener Torhüter verpflichtet wird. Hertha entschied sich dagegen. Christensen soll das volle Vertrauen bekommen, mit Neuzugang Tjark Ernst und Nachwuchs-Keeper Robert Kwasigroch sieht man sich gut genug aufgestellt. Kein ungefährliches Unterfangen, denn sollte Christensen länger ausfallen, müsste ein Profi-Neuling einspringen - Ergebnis offen.

Christensen zeigte in den ersten Partien noch größere Wackler, doch mit jedem Spiel scheint der 23 Jahre alte Däne sicherer zu werden. Mit seiner modernen, mutigen Spielweise passt er gut zum Fußball von Trainer Sandro Schwarz. Sollte sich Christensen auf dem Niveau, das er zuletzt beim 0:1 gegen Borussia Dortmund zeigte, stabilisieren, ist Hertha im Tor womöglich so gut aufgestellt, wie seit Jahren nicht mehr. Doch aufgrund seines noch jungen Alters ist auch stets mit Formdellen zu rechnen. Insgesamt eine Position mit mehreren kleinen Fragezeichen.

Torhüter

  • Neuzugänge

  • Abgänge

Abwehr

Fragezeichen gibt es auch in Herthas Abwehr zuhauf. Auch hier hat sich personell viel verändert – die 71 Gegentore der vergangenen Spielzeit zeigen prägnant, warum. Bereits im Winter kam Marc Oliver Kempf vom VfB Stuttgart, um Abhilfe zu schaffen. Der Abwehrspieler tut sich allerdings noch schwer, der Fels in der Brandung zu sein – doch ähnlich wie Christensen scheint er sich langsam zu stabilisieren.

Der Platz neben Kempf ist noch ohne klare Besetzung. Da die ehemaligen Kapitäne und Stammspieler Dedryck Boyata und Niklas Stark abgegeben wurden, herrscht ein offener Vierkampf zwischen Marton Dardai, Linus Gechter (den jedoch körperliche Probleme plagen) sowie den beiden Neuzugängen Filip Uremovic und Agustin Rogel. Konkurrenzkampf soll bekanntlich gut tun, doch aktuell tun sich in Herthas Innenverteidigung viel eher Fragezeichen auf. Wie sich Herthas Innenverteidigung später in der Saison aufstellen wird, kann nicht seriös prognostiziert werden – das birgt gleichermaßen Chance und Risiko.

Auch, weil Herthas Außenverteidiger-Positionen ebenfalls Zweifel zulassen. Links sollte Marvin Plattenhardt vermeintlich gesetzt sein, schließlich wurde er kürzlich zum Kapitän ernannt. Seine jüngsten Leistungen und erneuten Verletzungsprobleme nagen jedoch an seinem Status. Konkurrent Maximilian Mittelstädt scheint von seinen Anlagen her besser zum aktiven, mutigen Spiel von Trainer Schwarz zu passen, doch seine individuellen Aussetzer, die immer wieder zu Gegentoren führen, negieren diesen Umstand beinahe schon wieder. Restlos zufrieden kann Hertha auf dieser Position nicht sein, dafür zeigen beide Linksverteidiger zu große Defizite.

Dasselbe gilt für die rechte Abwehrseite. Hier hat sich Hertha mit Jonjoe Kenny verstärkt, der zwar ein Mentalitätsspieler mit großer Leidenschaft ist, dem jedoch die fußballerischen Qualitäten etwas abgehen. Womöglich kann er aufgrund seiner Arbeitsrate ein passender Zuspieler für Flügelpartner Dodi Lukebakio und damit ein funktionierendes Rädchen im System sein – auffällig besser macht er Hertha jedoch nicht. Große Unterschiede zu Routinier Peter Pekarik sind bislang jedenfalls nicht zu erkennen. Deyvaisio Zeefuik, der nun doch in Berlin geblieben ist, bleiben nur Außenseiterchancen.

Abwehr

  • Neuzugänge

  • Abgänge

Mittelfeld

Im Mittelfeld ist die Rollenvergabe hingeben deutlich klarer. Auch hier hat sich im Sommer einiges getan, die Eckpfeiler sind jedoch nahezu dieselben geblieben. Der hoch veranlagte Suat Serdar, der bereits in der vergangenen Saison oftmals Herthas Bester war, ist auch in der Saison 2022/23 ein Schlüsselspieler. Serdars Durchschlagskraft, der Blick für die Tiefe und eigene Torgefahr sind Eigenschaften, die dringend benötigt werden. Arbeitet der 25-Jährige an seiner Effizienz, ist er ein weit überdurchschnittlicher Bundesliga-Spieler.

Im 4-3-3-System von Schwarz braucht es auch einen "Ankersechser" – jemand, der im defensiven Mittelfeld die Position hält und seinen Mitspielern den Rücken schützt. Mit Ivan Sunjic wurde genau solch ein Spieler – dank Leihe ohne großes Risiko – verpflichtet. Er vereint exakt die Eigenschaften, die es auf jener Position braucht und ließ sie bereits aufblitzen. In den letzten Spielen wirkte der Kroate etwas zu hektisch in seinen Aktionen, doch auch ihm muss eine Eingewöhnungszeit gestattet sein. Stabilisiert er sich, hat Bobic einen cleveren Deal aus dem Hut gezaubert, da Santiago Ascacibar gleichwertig ersetzt wurde und dessen hohes Gehalt dank der Leihe gespart wird.

Auf der zweiten Achter-Position hat sich Hertha klug verstärkt. Jean-Paul Boetius, den Schwarz bereits aus Mainz kennt, kam ablösefrei nach Berlin und bringt viel spielerische Qualität mit. Mit ihm, Lucas Tousart, Kevin-Prince Boateng und Vladimir Darida hat Hertha eine sehr ordentliche Breite auf dieser Position, zumal die so unterschiedlichen Spielertypen es ermöglichen, individuell auf Gegner und Spielsituation eingehen zu können.

Mittelfeld

  • Neuzugänge

  • Abgänge

Angriff

Die 37 geschossenen Tore der Vorsaison waren ein klares Indiz dafür, dass sich die "alte Dame" auch offensiv merklich verstärken muss. Davie Selke teilweise als erste Option für den Mittelsturm und Spieler wie Serdar, Darida oder Ekkelenkamp, die plötzlich auf dem Flügel spielten, waren kein hinnehmbarer Zustand.

Der erste Neuzugang war eigentlich gar keiner: Dodi Lukebakio kehrte von seiner wenig erfolgreichen Leihe beim VfL Wolfsburg zurück. Eigentlich sollte der Belgier verkauft werden, doch er wollte sich in Berlin durchsetzen – und zeigt seit Trainingsstart genau das. Unter Schwarz wirkt Lukebakio wie ausgewechselt. Seine herausragenden Veranlagungen waren jedem bekannt, doch nun zeigt er auch den Willen, der so oft fehlte. Aktuell ist er womöglich Herthas bester Spieler – und damit ein gefühlter Neuzugang. Mit dem genesenen Marco Richter hat er einen Konkurrenten, der Formschwächen schnell bestrafen wird.

Chidera Ejuke und Wilfried Kanga sind hingegen echte Neuzugänge, die Hertha ebenfalls deutlich verbessern. Ejuke bringt großes Tempo und herausragende Fähigkeiten im Dribbling mit – Eigenschaften, die Hertha zuletzt so fehlten. Er muss in seinen Aktionen nur noch zielstrebiger werden. Zwar handelt es sich hierbei nur um eine Leihe, unter anderen Umständen hätte Hertha einen Spieler seiner Qualität jedoch nicht bekommen.

Kanga hat ebenso schon gezeigt, inwiefern er der Mannschaft helfen kann. Sein enorme körperliche Robustheit und die Explosivität im Antritt machen ihn zu einem guten Wand- wie Konterspieler. Er leidet aktuell darunter, noch zu wenig brauchbare Bälle zu bekommen – die Anlagen sind aber zweifelsohne zu erkennen. Mit Selke, Stevan Jovetic und dem bald zurückkehrenden Jessic Ngankam stehen einige Alternativen bereit.

Angriff

  • Neuzugänge

  • Abgänge

Fazit

Einen nach wie vor schiefen Kader sportlich neu ausrichten, Altlasten loswerden, ein Transferplus erzielen – Fredi Bobic wird in der Branche wohl nicht um seinen Job beneidet worden sein. Dass Hertha erst seit der gewonnenen Relegation wirklich planen konnte, kommt erschwerend hinzu. Ganze 30 Personalentscheidungen hat Bobic in den 100 Tagen seit der Relegation getroffen – 19 Abgänge, neun Neuzugänge und zwei Vertragsverlängerungen.

Insgesamt fällt das Fazit positiv aus. Die Transfers wirken stimmig, sie zahlen auf die Idee des Trainers ein. Viele der neuen Spieler haben bereits angedeutet, die Mannschaft besser machen zu können. Zudem ist der Kader auch deutlich ausgewogener, jede Position ist mindestens doppelt besetzt.

Doch Bobic wird aufgrund Herthas wirtschaftlicher Schieflage auch an den Verkäufen gemessen. Mit 18,3 Millionen Euro erzielte man das zweithöchste Transferplus der Bundesliga, hinzukommen die eingesparten Personalkosten. Durch mehrere "kleine" Verkäufe konnten Spieler wie Lukebakio oder Tousart gehalten werden, um die Qualität im Kader hochzuhalten.

Ja, Herthas Kader birgt auch im Sommer 2022 Risiken. Doch so fair muss man sein: Kaum ein Bundesligist kommt ohne solche Risiken aus. Es ist offensichtlich, dass der erneut große Umbruch Zeit brauchen wird, doch aufgrund der kohärenteren Transferstrategie und der bisher gezeigten Leistungen ist die Hoffnung berechtigt, dass Hertha BSC endlich wieder bessere Zeiten bevorstehen.

Sendung: rbb24, 02.09.2022, 18 Uhr

Beitrag von Marc Schwitzky

6 Kommentare

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  1. 6.

    @HerthaSvenni: Gute und meiner Meinung nach realistische Einstellung! So ein Umbau braucht Zeit. Ich teile Ihre Meinung, dass sich im Verein und somit in der Außendarstellung die Dinge in letzter Zeit beruhigen und somit zum Besseren hin bewegen.

    Auch wenn ich kein Hertha-Fan bin, wünsche ich dem Verein, dass er wieder auf kräftigere Beine kommt und den Spagat zwischen Tradition und Moderne schafft. Dass man diese Saison nicht oben mitspielen wird, war klar und wurde auch von niemandem so kommuniziert: Insofern: Cool bleiben, zusammenhalten, weiterarbeiten, Klasse halten.

  2. 5.

    Wünsche Union einen Sieg gegen die Bayern heute und uns morgen in Augsburg auch. HaHoHe!

  3. 4.

    Das mag sein,Urs Fischer ist ein Top Trainer. Aber auch Schwarz ist der Beste den wir seit langem hatten. Jetzt heißt es nur ihm Zeit zu geben und nicht Panik zu machen. wenn wir am Ende auf Platz 14 oder 15 stehen war es für uns ne vergleichsweise gute Saison

  4. 3.

    Achso, noch was
    Ich glaube, das ihr mit diesem Kader,unter Urs Fischer, keine Abstiegssorgen hättet.

  5. 2.

    Ich muss meinem Vorredner widersprechen was die Außendarstellung angeht. Ich finde seit ein paar Monaten ist es deutlich ruhiger geworden abseits des Platzes. Wann hat Windhorst zuletzt Stunk gemacht? Ist ne Weile her. Seit dem Wechsel im Präsidium und der Verpflichtung von Sandro Schwarz wirkt der ganze Club deutlich positiver. Jetzt muss das nur noch aufs Spielfeld übertragen werden.

  6. 1.

    OK. Fang ich als Unioner Mal an. Ich finde,Herr Schwitzky hat das alles sehr gut zusammengefasst. Allerdings muss nicht nur die Mannschaft zeigen, das sie bundesligatauglich ist, sondern der gesammte Verein. Die Außendarstellung ist, gelinde gesagt, eine Katastrophe. Zurück zur Mannschaft. Ich glaube, das Herthas Personal besser zu einem 3-5-2 passen würde. Bei dieser wackligen Innenverteidigung täten zwei zusätzliche Aussen gut , wenn es denn nötig ist. Hinzu kommt, das Mittelstätdt oder Plattenhardt im jetzigen System, ihre offensiven Fähigkeiten nicht so zur Geltung bringen können. Wie auch immer. Viel Glück.
    EISERN

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