rbb|24-Datenrecherche - In diesen Berufsgruppen tragen Geringverdienende das höchste Corona-Risiko
Erhöhte Ansteckungsgefahr und dürftiger Lohn: Vor allem in Pflege, Handel und Gastronomie werden oft jene schlecht bezahlt, die viel Kontakt mit anderen Menschen haben. Und das birgt mehrere Risiken. Von Haluka Maier-Borst und Veronika Fritz
Ronni Lacks Augenringe erzählen von der gestrigen Schicht: 14 bis 22:30 Uhr, ohne Pause. Patientin waschen, umbetten, Essen reichen, Verbände wechseln. Manchmal muss er all das in kaum mehr als zehn Minuten schaffen. Und dann ins Auto, zum nächsten Hausbesuch. Zehn bis 16 Menschen betreut Lack als ambulante Pflegekraft so jeden Tag - auch während Corona.
Für die meisten Menschen hat sich während des Lockdowns ihr Arbeitsalltag verändert: Homeoffice, Videoanrufe. Aber für Lack blieb der Job gleich. "Die Patienten brauchten meine Hilfe, also bin ich hingefahren über die leeren Straßen. Und oft war ich der einzige Besuch für diese alten, einsamen Menschen", sagt er.
Seine eigenen Kontakte hat er gekürzt, um sich nicht mit Corona anzustecken und damit seine Patienten zu gefährden. Freunde, Familie kaum gesehen, weiter gemacht in Kittel, Handschuhen und Maske – selbst wenn darunter das Atmen schwer fällt. Nach 25 Jahren im Beruf knirscht sein kräftiger Körper und den ersten Infarkt hatte er schon. Drei Stents führen inzwischen zu seinem Herz. Der Lohn dafür: 1.700 Euro Brutto. Und ein wenig Applaus während den ersten Wochen des Lockdowns.
Die Helden der Krise werden allmählich vergessen
Dass sich an diesen Bedingungen so bald etwas ändert, bezweifelt Andreas Splanemann, Sprecher der Gewerkschaft ver.di für Berlin und Brandenburg. “Der Heldenstatus verblasst langsam“, sagt er. Nach dem Loben der "Systemrelevanten", sei die Politik schnell zur Tagesordnung übergegangen. Selbst der einmalige Pflegebonus komme zum Beispiel bei den Pflegerinnen im Krankenhaus nicht an. Die Gehälter werden wohl unverändert niedrig bleiben.
Ronni Lacks Arbeitsalltag passt in ein Schema, das gerade während der Coronakrise an Brisanz gewinnt. Einerseits ist das Ansteckungsrisiko in jenen Berufen hoch, in denen Menschen viel Kontakt haben. Andererseits sind gerade jene Jobs schlecht bezahlt, in denen physische Nähe zu anderen unvermeidbar ist.
Das ist das Ergebnis einer Datenanalyse von rbb|24, die sich auf Gesundheits- und Sozialberufe sowie den Handel und das Gastgewerbe konzentriert hat. Die Ausnahme von dieser Regel sind Ärzte. Ansonsten gilt: Je mehr Kontakt mit Menschen, desto dürftiger der Lohn.
Für die Betroffenen kann diese Konstellation zweierlei bedeuten: Entweder gibt es eine Art Zwang durchzuhalten, weil man in den “systemrelevanten Berufen” tätig ist. Dadurch riskiert man trotz vergleichsweise niedriger Entlohnung die eigene Gesundheit, so wie Lack. Oder die Krise trifft die Menschen finanziell hart, weil während der Kontaktsperre die Arbeit nicht erlaubt war, und jetzt oft nur Kurzarbeit möglich ist – bei einem sowieso niedrigen Lohn.
Wenn selbst an einem Freitagabend Ruhe im Restaurant herrscht
Es ist ein Freitagabend in Berlin-Charlottenburg. Der Sommer hat eine graue Pause mit vielen Regenwolken eingelegt. Wäre es ein Jahr wie jedes andere, würden dennoch die Gäste in das Restaurant "Dicke Wirtin" am Savignyplatz strömen und die Kellnerin Gabriela Rusczyk gut beschäftigen. Doch jetzt sind nur einige Tische belegt. Trotzdem guckt Rusczyk immer wieder nach den wenigen Gästen, schaut, ob sie auch gut versorgt sind.
An einem normalen Arbeitstag vor Corona hätte Rusczyk keine Zeit für ein längeres Gespräch über ihre Arbeit gehabt. Sie hätte für etwa 100 Menschen Bestellungen aufgenommen, das Essen gebracht, abkassiert und in der Menschenmenge den ein oder anderen Stammgast auch mal herzlich gedrückt. Doch in Zeiten von Corona, bedeutet das zu viel Nähe - das beschloss der Berliner Senat im März. Die "Dicke Wirtin" musste wie alle anderen Restaurants für viele Wochen schließen.
Heute darf Rusczyk unter Auflagen wieder ihre Gäste in der "Dicken Wirtin" bedienen. Und doch fehlen die Lockerheit, die Umarmungen und vor allem der Umsatz. In der "Dicken Wirtin" treffen Altberliner sonst auf Touristen aus England, China, Polen und den USA. Aber diese Gäste aus dem Ausland bleiben fern. Auch deshalb ist Rusczyk in Kurzarbeit und muss mit 60 Prozent ihres Nettogehalts auskommen. "Davon kannst du nicht leben und nicht sterben", sagt sie. Ihr geht es wie so vielen in der Gastronomie in Berlin und Brandenburg: Drei von vier in der Branche sind in Kurzarbeit.
Wie viele Menschen mit der Konstellation "viel Nähe, wenig Gehalt" arbeiten, ist schwer zu sagen, auch weil weder die Agentur für Arbeit noch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Daten zur physischen Nähe erhebt. rbb|24 musste darum eine eigene Methodik entwickeln, die weiter unten erklärt ist.
Man kann aber eine sehr grobe Schätzung machen, indem man die jeweils zehn Berufsgruppen mit der meisten Nähe zu anderen aus den Bereichen Gesundheits- und Sozialberufe sowie Handel und Gastgewerbe dahingehend anschaut, wie viele Beschäftigte hier arbeiten. Betroffen wären demnach bis zu fünf Millionen Arbeitstätige in Deutschland. In Berlin und Brandenburg sind es rund 400.000, die für viel Nähe wenig Lohn sehen. Das ist sowohl regional als auch bundesweit gesehen jeder und jede siebte Arbeitnehmer/in.
Dass nun die physische Nähe durch Corona zum Problem wird, ist neu. Nicht neu ist die Erkenntnis, dass prekäre Jobs oft schlecht für die Gesundheit sind.
Silke Tophoven von der Hochschule Düsseldorf beschäftigt sich seit einigen Jahren mit diesem Zusammenhang. Sie hat in einer Studie zeigen können, dass bei Beschäftigten in prekären Jobs die Gesundheit leidet. Dass ein Job prekär ist, könne sich, laut Tophoven, auf verschiedene Art und Weise ausdrücken: schlechte Bezahlung, hohe physische Belastung, niedrige Anerkennung. "Je mehr von diesen prekären Aspekten zusammenkommen, desto schlechter ging es in der Studie den Leuten gesundheitlich”, sagt sie.
Bei Frauen würde sich dieses Muster zum Beispiel folgendermaßen abzeichnen, erklärt die Forscherin Tophoven: "Vereinfacht gesagt, als Sekretärin in einem größeren Handelsunternehmen können Sie den Job sehr lange machen. Als Kellnerin oder Verkäuferin kommen Sie dagegen im Alter oftmals an ihre körperlichen Grenzen."
Eine Person, die diese Belastung in Corona-Zeiten zu spüren bekommt, ist Lea Robben [Name von der Redaktion geändert], die lieber anonym bleiben will. Sie arbeitet in einem Berliner Supermarkt. In Spitzenzeiten flitzen Brötchen, Nudeln und Klopapier in einem endlosen, fiependen Strom über den Scanner ihrer Kasse. Ihr Lohn: 11,85 Euro pro Stunde. Und pro Stunde habe sie mit bis zu 100 Menschen Kontakt, sagt Robben. Viele würden eben auch mit der ganzen Familie zum Einkauf kommen.
Als sei die Maskenpflicht nur Schikane
Eigentlich mache der Job Spaß, sagt die Kassiererin, auch wenn die Bezahlung mager sei. Aber die Pandemie gehe an die Substanz. Zwar hielten sich die meisten an die Regeln. "Aber die übrigen 10 bis 20 Prozent, die rauben einem die Nerven", sagt sie. Die würden das Anmahnen der Maskenpflicht regelrecht als Aufstand der Kassiererinnen verstehen. "Als hätten wir uns das ausgedacht, um zu schikanieren", sagt sie.
Die Arbeit sei genau so anstrengend wie zur Zeit, als die Zahl der Erkrankungen rapide stieg, als die Epidemie in Berlin und Brandenburg auf dem vorläufigen Höhepunkt war. Aber mit dem Abflauen der Fallzahlen sei auch das Danke beim Bezahlen verschwunden.
Die Wertschätzung und die Solidarität seien weg. Die bessere Bezahlung für Leute wie sie, käme wohl nie.
Doch das Risiko wird vorerst bleiben.
Methodik:
Inspiriert wurde dieser Artikel von einem Stück aus der "New York Times" mit dem Titel "The Workers Who Face the Greatest Coronavirus Risk". rbb|24 hat am Anfang der Recherche mit Experten der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin und dem Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) gesprochen. Dabei war keinem der Forscher oder Forscherinnen eine deutsche Erhebung zur physischen Nähe in Berufen bekannt.
Entsprechend haben wir die amerikanischen Umfrage-Daten von O*Net zur Nähe in Berufen genutzt, die auch dem New York Times-Artikel zugrunde liegen. Um diese Daten aber für Deutschland nutzbar zu machen, haben wir die amerikanische Klassfikation in deutsche Berufsklassifikationen "übersetzt", einmal händisch und einmal teil-automatisiert. In 61 Prozent der Fälle war die Klassifikation zwischen den beiden Methoden identisch, in weiteren 19 Prozent der Fälle stimmte zumindest der Arbeitssektor überein.
Wir haben daraufhin geschaut, in welchen Arbeitssektoren es eine signifikante, negative Korrelation zwischen körperlicher Nähe und Gehalt gibt und geprüft, ob der Trend bestehen bleibt, egal ob man die händische, die teil-automatische oder nur die Berufe nimmt, in denen beide Klassifikationen übereinstimmen. Das war der Fall für die Berufsbereiche 06 –"Kaufmännische Dienstleistungen, Warenhandel, Vertrieb, Hotel und Tourismus" und 08 – "Gesundheit, Soziales, Lehre und Erziehung". Die genaue Methodik im Detail finden Sie auf Github.