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Quelle: imago images/N. Dahhan

Debatte um Buch "Oh Boy"

Wenn ein Täter seine Tat eingesteht - und damit erneut das Opfer verletzt

In "Oh Boy" beschreibt Buchautor Valentin Moritz, wie er gegenüber einer Frau sexuell übergriffig geworden ist. Das mutmaßliche Opfer sagt rbb|24, dass das gegen ihren Willen geschehen sei. Eine Geschichte über den Umgang mit Täterschaft. Von Laura Kingston

"Ich habe eine Grenze überschritten", schreibt Valentin Moritz. Der Berliner ist Mitherausgeber und einer der Autoren des Sammelbands "Oh Boy" - einem Buch, das sich mit Männlichkeit auseinandersetzt - und mit männlicher Täterschaft. Darin berichtet er davon, gegenüber einer Frau sexuell übergriffig geworden zu sein: "Ich berührte ihren Körper in einer Situation, in der ich hätte ahnen können, dass sie das nicht wollte, und als sie sich meinem Willen entzog, habe ich mich feige und wortlos davongemacht", heißt es in seinem Text "Ein glücklicher Mensch".

Valentin Moritz, links, und mitherausgebende Person Donat Blum | Quelle: Kanon Verlag

"Oh Boy" erfreut sich guter Rezensionen

Auf Anfrage von rbb|24 sagt der Autor zu seinem Motiv, sein Text "Ein glücklicher Mensch" sei ein Versuch, mit seinem "Anteil an der Rape-Culture möglichst verantwortungsvoll umzugehen." Das Buch, das mitsamt seines Textes am 12. Juli im Kanon-Verlag veröffentlicht wurde, feiern die Feuilletons der Zeitungen und Kulturredaktionen der Rundfunkanstalten - inklusive des rbb.

Im SWR wird die Anthologie als "vielschichtiger Beitrag" in der aktuellen Debatte um das Thema Männlichkeit beschrieben. Die Schriftstellerin und Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal schreibt im Nachwort, sie sei "so froh über dieses Buch." Quasi der feministische Abschiedssegen des Buchs, zusätzlich zu den meist positiven Reaktionen in Netz und Fernsehen.

Rabea, die auf eigenen Wunsch nicht mit richtigem Namen genannt werden will, fühlt sich derweil verprügelt, wie sie rbb|24 sagt. Jedes Lob für einen fortschrittlichen Diskurs, jede Buchvorstellung oder Rezension sei für Rabea ein Schlag ins Gesicht. Die Veröffentlichung des Buchs am 12. Juli: ein Tritt in die Magengrube, der bis heute nachhallt, wie sie sagt. Sie sei diejenige, so sagt sie, die von Valentin Moritz angefasst wurde, die Person, um die es in seinem Text "Ein glücklicher Mensch" gehe.

Die Berührung, von der der Autor schreibt, sei in einem Club passiert; "Ich habe versucht, seine Hand weg zu ziehen, bin aber total auf Widerstand gestoßen."

Valentin Moritz besteht indes darauf, in seinem Text werde "an keiner Stelle über einen konkreten Vorfall oder eine konkrete Person gesprochen". Das sagt er auf rbb|24-Anfrage.

Die Konfrontation

Nach dem Vorfall im Club, im Mai 2022, zieht Rabea sich zurück, weiß nicht, ob sie das Thema ansprechen soll. Sie setzt sich schließlich mit ihrer Schwester zusammen und schreibt Moritz einen Brief, mit dem sie ihm ihre Gefühle über das Geschehene näherbringen will, wie sie sagt.

Bei dem Gespräch sei es auch um das Buchprojekt gegangen, so Rabea, das Moritz schon 2021 gestartet hatte. Es sei in dem Gespräch sogar zum großen Teil darum gegangen, wie es mit dem Buchprojekt weitergehen könne: "Und es ging immer nur um ihn", sagt Rabea. Der Autor habe alles umgedreht und sich zum Opfer gemacht. Er habe auf ihren Vorschlag, das Buchprojekt ruhen zu lassen, gefragt, wovon er dann leben solle. "Dann müsste er irgendwie Arbeitslosengeld beantragen."

Kurz nach dem Treffen im August 2022 schreibt Rabea eine Handynachricht an Valentin Moritz, die rbb|24 vorliegt: "Ich möchte nicht, dass du den Übergriff, egal wie anonymisiert auch immer, benutzt. [...] Wie auch schon während des Gesprächs formuliert - du kannst keinen Profit aus deiner Täterschaft machen und mich zusätzlich auch noch belasten." Moritz habe ihr sein Bedauern mitgeteilt und geschrieben, er habe den anderen Beteiligten des Buchprojekts von seiner Täterschaft erzählt und seine Rolle in Frage gestellt.

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Der Boykott

Zehn Monate später die Veröffentlichung. Die Frau, an der sich Valentin Moritz vergangen hat: anonymisiert. Rabea schäumt vor Wut, wie sie rbb|24 sagt. Sie habe ihm daraufhin bei Instagram geschrieben, dass er erneut eine Grenze überschritten habe. Moritz habe in seiner Instagram-Antwort darauf verwiesen, dass weder die in seinem Text erwähnte Person noch die Tat, genauer zeitlich und räumlich beschrieben seien.

Rabea ruft zum Boykott auf, indem sie unter den Posts des Autors und des Kanonverlags kommentiert. Ersterer habe die Kommentare gelöscht und sie später blockiert, sagt Rabea. Der Verlag lässt die Kommentare stehen, nimmt aber keinen Bezug darauf.

Auf rbb-Anfrage, wie Kanon damit umgehen wolle, schreibt der Verleger von "Oh Boy": Über den Instagram-Account seien "unzutreffende Vorwürfe gegen Valentin Moritz und seinen Text 'Ein glücklicher Mensch' vorgebracht worden." [...] "Der Verlag kann nicht auf unzutreffende Vorwürfe reagieren, wenn diese anonym vorgebracht werden", schreibt der Verleger am 15. August.

Rabea sucht sich ab Anfang August schließlich Hilfe bei dem Instagram-Account von "Keine Show für Täter", der ebenfalls unter Posts des Verlags und Autors zum Boykott aufruft.

Kanon-Verlag und Autor weisen Vorwürfe erst zurück

Auf die Frage, ob sich Valentin Moritz das Einverständnis beim Opfer seiner Tat geholt habe antwortet er rbb|24: "Da in meinem Text kein Geschehen geschildert wird, das in Verbindung zu einer konkreten Person steht, bedurfte es keiner Einwilligung, diesen zu veröffentlichen."

Der Verlag antwortet auf dieselbe Frage: "Wir können nur abermals betonen: In 'Ein glücklicher Mensch' wird, anders als von Ihnen angedeutet, nicht über einen konkreten Vorfall oder eine konkrete Person gesprochen. Es ist ein literarischer Text, in dem die Privat- und Intimsphäre möglicher Betroffener durchgehend gewahrt bleibt."

Der Rückzug

Bis zum Donnerstag bleiben sowohl der Verlag als auch der Autor bei ihren Standpunkten. Dann kündigt Moritz in einem Instagram-Post seinen Rückzug aus dem Projekt an. Als Begründung dafür nennt er einen "anonymen Boykottaufruf", der das ganze Buch treffe. Es tue ihm leid, dass sich "diese Person von [s]einer Veröffentlichung derart getroffen fühlt."

In einem Statement des Kanonverlags vom Donnerstag heißt es: "Wir nehmen diese Kritik sehr ernst." Lesungen des Autors im September seien bereits abgesagt.

Was bleibt

Rabea sagt, sich zur Wehr zu setzen, habe sie bestärkt. Sie habe es nicht "stehen lassen [wollen], dass [Valentin Moritz] sich so profiliert und als ein reflektierter Typ gilt und abgefeiert wird." Vom Verlag fordert sie, dass er den Text von Moritz in der zweiten Auflage - sollte es eine geben - herausnimmt und den Prozess beschreibt, der dazu geführt hat, dass dieser Text keinen Platz mehr in dem Buch findet. Und vom Täter wünscht sie sich, "dass er einfach aufhört, sich auf irgendwelche Bühnen zu stellen."

Sendung: Radioeins, 27.07.2023, 10:10 Uhr

Beitrag von Laura Kingston

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