Theater | "Der Schnittchenkauf" an der Volksbühne - Sein oder nicht sein? Alles liegt im Werden.
Mit "Der Schnittchenkauf" kommt posthum ein Prosa-Text von René Pollesch auf die Berliner Volksbühne. Darin emanzipieren sich die Schauspieler und revolutionieren das Theater. Von Corinne Orlowski
Auf der Hinterbühne werden fingerdicke Schnittchen geschmiert, Butterbrote mit ordentlich Schnittlauch darauf. Doch verkauft, gekauft, gar verteilt wurden sie nicht. Ist man nicht deswegen ins Theater gekommen? "Der Schnittchenkauf" ist ein Prosa-Text, den Regisseur René Pollesch im Jahr 2011 geschrieben und als Performance in einer Berliner Galerie gezeigt hat.
Darin bezieht er sich auf Bertolt Brechts "Der Messingkauf", seine theoretischen Schriften zum Theater, in dem er in der Figur des Philosophen auftaucht und sagt, dass er sich vorkomme wie ein Messinghändler, der ein Orchester besuche und den weder die Musik noch die Instrumente interessieren, sondern der wertvolle Rohstoff. Theater als Material – das dreht Pollesch weiter. Weshalb komme man ans Theater? Wegen der Schnittchen, die es dort gibt, nicht wegen der Moral in einem Stück.
"Vierte Wand" zum Publikum wird hochgezogen
Das erzählen, stottern, diskutieren Kathrin Angerer, Franz Beil, Rosa Lembeck, Milan Peschel und Martin Wuttke in absurden Safari-Outfits – alles Pollesch-Vertraute. Sie stehen in einem Bühnenbild von Leonard Neumann, dem Sohn des legendären Volksbühnen-Bühnenbildners Bert Neumann, das er eigentlich für eine ganz andere Inszenierung gebaut hat: Ein Holzgerüst, darin eine Art japanisches Zimmer.
Ein Vorhang mit einer romantischen Flussbett-Szene trennt die Hinterbühne ab. Alles, was sich dort abspielt, sieht man auf einem Screen oberhalb des Gerüsts. In den gebrauchten Kulissen denkt das Ensemble über das Theater nach und zieht eigentlich die imaginäre vierte Wand zum Publikum, die Brecht einst eingerissen hat, wieder hoch. Sie wollen nichts mehr vorspielen, sie werden nicht mehr vom Regisseur geliebt, sie sind reale Körper.
Leerer Regiestuhl
Pollesch hat über Hundert Stücke geschrieben, die nie ohne ihn nachgespielt werden durften. Jetzt die Adaption eines Prosatextes von ihm – und der Regie-Stuhl ist leer geblieben. Trotzdem hat das Stück den Pollesch-Sound, die Art zu denken und die monotone Weise der Schauspieler zu sprechen. Weniger diskurslastig, aber immer noch schwer zugänglich. Es gibt auch die typische Handkamera, die ganz nah an die Gesichter geht und den Spielenden überallhin folgt, auch auf dem (motorisierten) Fahrrad. Dabei entwickelt das Ensemble eine emotionale Reife, die man von den frühen Pollesch-Inszenierungen in der Form nicht kennt. Die Schauspielkörper denken über das Leben und Miteinander nach und den Tod. Nicht das Sein ist entscheidend, alles liegt im Werden, sagt Martin Wuttke auf der Bühne, erst dann könne man die Banalität des Sterbens akzeptieren.
Kommentar auf das führungslose Theater
Es kommt einem so vor, als würde das Ensemble mit "Der Schnittchenkauf" den plötzlichen Tod von René Pollesch weiter verarbeiten und vor allem die aktuelle Lage des führungslosen Theaters kommentieren, jetzt nachdem auch die Interims-Intendanten Vegard Vinge und Ida Müller hingeschmissen haben. Hier sagen sie: Seht her, wir Schauspieler können es auch allein. Weg von der Figurenrede, Weg vom Als-ob-Spiel. In "Der Schnittchenkauf" emanzipieren sich die Schauspieler und revolutionieren das Theater. Man könnte es großspurig vielleicht als existenzialistisches Anti-Illusionstheater begreifen. Das Publikum ist dabei gar nicht so mehr so wichtig – und das kam dort ziemlich gut an.
Sendung: rbb24 Inforadio, 05.12.2024, 08:50 Uhr