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Audio: rbb Inforadio | 28.10.2023 | Helena Daehler | Quelle: dpa/SULUPRESS.DE

Gestreamte Proteste

Demo-Influencer: Krawall bringt Klicks

Wenn Demonstrationen eskalieren, filmen Schaulustige und Influencer mit ihren Smartphones die Einsätze der Polizei - wie zuletzt bei pro-palästinensischen Demos in Berlin. Ein Experte erkennt eine neue hybride Protestform.

Donnerstagmittag. Hermannplatz, Neukölln. Es ist Marktzeit, der Platz ist belebt, im Hintergrund ruft ein Gemüsehändler mit ohrenbetäubender Stimme "Lecker lecker!" Hassan steht ein paar Meter abseits der Stände und spricht in sein Telefon. Auf der Statue hinter ihm, dem "Tanzenden Paar" prangt ein "Free Palestine"-Grafitti. In den vergangenen zwei Wochen wurde die Statue immer wieder beschmiert, überstrichen, beschmiert, überstrichen. Mehrere Polizeiwagen sind seit einigen Tagen pausenlos hier am Platz stationiert – der Krieg in Nahost ist am Hermannplatz allgegenwärtig – auch an einem ganz normalen Markttag wie heute.

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In die Tiktok-Videoberichterstattung "reingerutscht"

Hassan, der 37-jährige Neuköllner, streamt seit dem 7. Oktober regelmäßig live bei Tiktok. Er spricht in die Kamera zu seinen Follower:innen über den Krieg und filmt die Proteste an der Sonnenallee. Er erreicht damit, wenn es hochkommt, mehrere Tausend Menschen. Er sieht seine Aufgabe darin, "neutral" zu berichten. "Man muss zwischen Hamas und Palästina wirklich differenzieren. Das machen viele nicht!" Von neutraler "Berichterstattung" im klassischen journalistischen Sinne kann aber nicht die Rede sein. Auf seinem Tiktok-Account ist viel Israel-Kritik zu sehen, Quellenangaben von Videos, die er teilt, fehlen. Eigene Meinung mischt sich mit Berichten vom aktuellen Geschehen.

Hassan ist in Berlin geboren und aufgewachsen – seine Eltern sind deutsche Staatsbürger palästinensischer Herkunft – so er hat sich schon immer mit beiden Ländern identifiziert. Das Vorgehen der Polizei gegenüber einigen der Demonstrationen und die – aus seiner Sicht – zu einseitige Berichterstattung hätten ihn zum Tiktoker gemacht: "Dann sehe ich - in dem Land, wo ich aufgewachsen bin, wo ich geboren bin: Dass man nichts reden darf, dass man den Mund nicht aufmachen darf und schweigen muss. Das habe ich festgehalten, viele Leute haben mir zugesprochen und so bin ich da reingerutscht."

Linus Kebba Pook von Democ e.V. analysiert Videos auf sozialen Medien | Quelle: rbb

Kaum Vertrauen in klassische Medien

Für viele - vor allem junge Menschen - sind soziale Medien wie Tiktok inzwischen zur Hauptinformationsquelle geworden. Das Misstrauen gegenüber klassischen Medien ist groß. Bei Hassan, aber auch bei seinen Zuschauer:innen. Ob er das Interview mit dem rbb heute machen soll – auch das hat er seine Follower:innen vorab gefragt. Wir haben Glück: 60 zu 40 geht es aus - zu unseren Gunsten. Frage an die Community: "Vertraut ihr noch klassischen Medien?" Die Antworten folgen unmittelbar, Hassan liest einige vor:

"Das ist natürlich das Gute, wenn du live bist", sagt Hassan. "Da können die Leute selber sehen, sich selber ein Bild davon machen. Das ist meine Aufgabe bei Demonstrationen."

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Ein hybrider Protest

Ein paar Tage zuvor – ein Mittwochabend an der Sonnenallee und eine typische Szene in diesen Tagen: Am Rande einer verbotenen pro-palästinensischen Versammlung fliegen vereinzelt Böller in Richtung der Einsatzkräfte. Die Polizei schreitet ein, um eine Person festzunehmen. Es kommt zu einer Rangelei, Rufe sind zu hören. Eine bunte Mischung aus Journalist:innen, Streamern und Schaulustigen fangen die Szene mit Kameras und Handys ein. Eskalation und Krawall ziehen in den sozialen Medien – und werden mit Klicks belohnt. Was auf den Straßen passiert, findet unmittelbar auch im Netz statt – und andersherum.

Der Verein Democ e.V. beobachtet seit 2019 antidemokratische Bewegungen online und offline – Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus – und auch die Proteste seit dem 7. Oktober. "Auf Tiktok beobachten wir gerade eine massive Radikalisierung einfach durch Videos, durch Inhalte, die auf dieser Plattform stattfinden, auch über einen langen Zeitraum online bleiben", sagt Linus Kebba Pook, Geschäftsführer von Democ. "Ich denke da vor allem auch an sehr klassische Falschnachrichten, eigentlich Desinformation."

Fake-Videos verbreitet

Art und Schwere der Desinformationen unterscheiden sich dabei stark. Kebba Pook öffnet einen der vielen Ordner mit Video-Material auf seinem Rechner. Auf dem Bildschirm erscheint ein Video, das den Alexanderplatz voller Demonstrierender zeigt – gefilmt aus einer vorbeifahrenden S-Bahn. In der Mitte des Videos steht der Schriftzug "Free Palestine" neben einer Palästina-Fahne. "Das sind Bilder einer Black-Lives-Matter-Demonstration vor einigen Jahren", sagt Kebba Pook. "Hier wird also suggeriert, es würde eine pro-palästinensische Demo mit vielen Tausend Teilnehmern auf dem Alexanderplatz stattfinden. Hier am Rand ist sogar noch der Originalkontext des Videos zu erkennen. Insgesamt scheint es die Leute aber nicht groß zu interessieren."

Eine weitere Falschmeldung verbreitete sich in der letzten Woche wie ein Lauffeuer. Laut Gerüchten sei ein 13-jähriger auf einer Demonstration von der Polizei angegriffen worden und daraufhin verstorben. Bereits einige Stunden später stellt die Polizei Berlin in den sozialen Medien klar: "Das ist ein Fake." Doch: das Gerücht ist in der Welt und heizt die Stimmung weiter an – auch heute findet man noch Videos zu dem Fall auf Tiktok.

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Erfolgsmodell Krawall

"Ich würde auf Tiktok erwarten, dass die Aufrufe zu Krawallen, das Filmen dieser Protestgeschehen eher mehr wird", sagt Linus Kebba Pook vom Democ-Verein. "Weil es sich gerade lohnt. Es ist für die Streamer, die Tiktoker und Influencer gerade ein Erfolgsmodell von Krawallen zu streamen – sie zu zeigen und das Protestgeschehen damit auch anzuheizen."

Die Streamer blieben dabei mitnichten neutrale Beobachter – einerseits vermittelten sie zwischen den Menschen online im Stream und den Geschehnissen vor Ort. Andererseits seien sie selbst aktive Teilnehmer der Demonstrationen. Nicht selten verabreden sich Menschen noch in den Kommentarspalten eines Live-Streams zu eigenen Versammlungen. "Aus meiner Sicht lässt sich die Trennung zwischen dem, was offline auf der Straße und online passiert, in der digitalisierten Gesellschaft so nicht mehr aufrechterhalten", sagt Kebba Pook.

Das Phänomen der Demo-Influencer ist auch der Polizei Berlin nicht entgangen. Auf rbb-Anfrage teilt eine Polizeisprecherin mit: "Die Polizei Berlin beobachtet und identifiziert im Rahmen des Internetmonitorings Nutzende in den sozialen Medien, die besonders aktiv an der Organisation angezeigter Versammlungen und an der Verbreitung von entsprechenden Inhalten beteiligt sind. Insbesondere die Art und Weise von Mobilisierungen von Organisationen/Personen zu Versammlungen wird ausgewertet."

Ob die Polizei Berlin tatsächlich über die Mittel verfügt, die schiere Masse an Desinformation und Aufrufen zu Krawallen engmaschig auszuwerten, bleibt fraglich. Hier wären bekanntermaßen die Anbieter wie Tiktok gefragt, einen besseren Umgang mit irreführenden Inhalten zu finden.

Tiktok-Live-Videos erhalten schnell, viele Reaktionen | Quelle: rbb

Der Protest geht weiter – online und offline

Für dieses Wochenende sind erneut mehrere pro-palästinensische Demonstrationen in Berlin geplant. Auch Hassan wird wieder live dabei sein. Er wünscht sich friedliche Demonstrationen und kritisiert die Menschen, die sich vor allem wegen Krawall und Eskalation beteiligen. Aber auch Hassan weiß, dass gerade diese Inhalte auf Tiktok Reichweite bedeuten.

Letzte Frage an die Community: "Hand auf's Herz: Was haltet ihr von Gewalt und Krawall auf den Demonstrationen?" - "Demonstration ist in Ordnung, aber friedlich!", schreibt einer. "Wir wollen keine Gewalt, sondern Frieden!", ergänzt eine andere. "Ich halte nichts davon, weil es nichts bringt." Hassan schaut sichtlich zufrieden.

"Okay Leute, ich bin jetzt erstmal wieder offline", sagt Hassan. Im Hintergrund schreit noch immer der Gemüseverkäufer. "Ich komme auf jeden Fall nochmal online. Danke, dass ihr dabei wart. Passt auf euch auf! Und nicht vergessen: Free Palestine, Free Gaza, Stoppt den Krieg!"

Sendung: rbb24 Inforadio, 28.10.2023

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