Brandenburg zieht Bilanz - Wie das erste Schuljahr ohne Corona-Lockdown lief

Mi 06.07.22 | 14:31 Uhr | Von Christoph Hölscher
  8
Symbolbild: Ein Mädchen geht über einen Schulhof. (Quelle: dpa/M.Brichta)
Video: rbb24 Brandenburg aktuell | 05.07.2022 | Markus Woller | Bild: dpa/M.Brichta

Das abgelaufene Schuljahr in Brandenburg war ein besonderes: Es gab endlich wieder Präsenzunterricht. Aber die Lernrückstände aus der Corona-Zeit sind längst nicht aufgeholt. Kann das geplante milliardenschwere Förderprogramm Abhilfe schaffen? Von Christoph Hölscher

Basketball und Kegeln stehen auf dem Schulcampus Lehnin (Potsdam-Mittelmark) am vorletzten Schultag auf dem Programm. Lockerer Ausklang eines Schuljahres, das erstmals wieder ohne flächendeckende Schulschließungen und Homeschooling auskam.

"Die Schüler haben wirklich danach gelechzt, wieder gemeinsam in die Schule zu kommen, hier ihre Freunde und Freundinnen zu treffen", erinnert sich Schulleiter Dirk Lenius. Trotzdem habe die Corona-Pandemie auch das zurückliegende Schuljahr in seiner Grund- und Gesamtschule geprägt: Test- und Maskenpflicht bis ins Frühjahr hinein, immer neue Hygienekonzepte, die oft sehr kurzfristig umgesetzt werden mussten, ein massiver Ausfall von Lehrkräften. Teilweise hätten bis zu 20 Prozent seiner 95 Lehrerinnen und Lehrer gefehlt, weil sie krank oder in Quarantäne waren, berichtet Lenius.

Schülerinnen und Schüler litten unter Isolation

Die Folgen der vorangegangenen Corona-Schuljahre sind längst nicht behoben: Schulleiter Lenius in Lehnin sieht die größten Defizite bei seinen knapp 1.000 Schülerinnen und Schülern im Sozialen. Das seien Folgen der Isolation während der monatelangen Schulschließungen in den Jahren 2020 und 2021. Doch auch fachlich gebe es erhebliche Rückstände, die nun parallel zur Vermittlung des neuen Lernstoffs ausgeglichen werden müssten.

Bildungsforscher sehen massive Lernrückstände durch Corona

Wie groß dieser Rückstand ist, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Humboldt-Uni jetzt im Rahmen einer großen Studie herausgefunden. Für den im Juli 2022 vorgestellten "IQB-Bildungstrend" wurden rund 27.000 Schulkinder der Jahrgangsstufe 4 in ganz Deutschland in der Fächern Deutsch und Mathe getestet. Ergebnis der repräsentativen Studie: Die Rückstände sind massiv - beim Lesen entsprechen sie etwa einem Drittel eines Schuljahres, in Rechtschreibung oder Mathematik etwa einem Viertel, beim Zuhören sogar einem halben Schuljahr.

Bildungsministerin: "Aufholprogramm läuft gut an!"

Ein milliardenschweres "Aufholprogramm" von Bund und Ländern soll helfen, diese Defizite abzubauen. Das Programm sei in Brandenburg gut angelaufen, sagt Bildungsministerin Britta Ernst (SPD) im Interview mit dem rbb. Dem Bundesland stünden dafür rund 70 Millionen Euro zur Verfügung. "Wir setzen ganz gezielt Lehrkräfte ein für Schülerinnen und Schüler mit Schwächen in Deutsch und Mathematik", so Ernst. Für Kinder, die sich einsam fühlten, gebe es außerdem außerschulische Projekte, um sie überhaupt wieder zum Lernen zu motivieren.

Landeselternvertreterin fordert, Lehrpläne auszudünnen

Das Aufholprogramm sei eine gute Idee, die aber in der Realität nicht funktioniere, findet dagegen Landeselternsprecherin Nicole Graser. Die Schüler müssten den aktuellen Lernstoff bewältigen und gleichzeitig die Rückstände aufholen. "Da man aber Zeit nicht teilen kann, ist es schwierig, diese Dinge zu vereinen." Graser fordert deshalb, Lehrpläne ausdünnen, um Zeit fürs Nachholen von versäumtem Unterrichtsstoff zu schaffen.

Auch Landesschülersprecher Noah Prizygodda sieht noch Luft nach oben beim Nachholprogramm. Viele Schülerinnen und Schüler wüssten gar nichts von den entsprechenden Angeboten. Gerade Kinder und Jugendliche aus Haushalten, in denen nicht deutsch gesprochen werde, müssten gezielt darauf angesprochen werden.

Lehrergewerkschaft will mehr Personal

Das Aufholprogramm greift noch nicht, kritisiert auch Günther Fuchs, Landesvorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Bislang seien dadurch vor allem Sozialkompetenzen gefördert worden – etwa mit Schwimmunterricht oder Zirkusprojekten. Es gebe gar nicht genügend Personal, um auch die fachlichen Rückstände etwa in Mathematik und Deutsch aufzuholen. Rund 500 Lehrkräfte fehlten seiner Meinung nach in Brandenburg. Das sieht Bildungsministerin Ernst anders – und rechnet vor: 1.200 Stellen müssten in Brandenburg fürs kommende Schuljahr neu besetzt werden. Rund 1.000 Lehrkräfte habe man dafür schon eingestellt. Für die noch offenen 200 Stellen werde man bis Schuljahresbeginn auch noch Personal finden, gibt sie sich zuversichtlich. Lehrermangel sei kein Thema in Brandenburg.

Mit Geld und Personal gegen Lernrückstände?

Schulleiter Dirk Lenius aus Lehnin hofft, dass die Ministerin Recht behält. Zwei Stellen an seiner Schule sind noch offen, ein Vorstellungsgespräch steht unmittelbar bevor. Mittel aus dem Nachholprogramm hat er im zurückliegenden Schuljahr bereits genutzt. Dabei standen Projekte zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls im Vordergrund – etwa gemeinsame Ausflüge oder Bastelnachmittage. Die fachlichen Rückstände wollen Lenius und sein Kollegium im kommenden Schuljahr verstärkt in den Blick nehmen. Mit einer "höheren fünfstelligen Summe" aus dem Aufholprogramm – und, wie Lenius hofft, vielen hochqualifizierten Lehrkräften.

Sendung: rbb24 Brandenburg Aktuell, 05.07.2022, 19:30 Uhr

Was Sie jetzt wissen müssen

Beitrag von Christoph Hölscher

8 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 8.

    Dieses Gejammer! Ja, es war nicht einfach, aber wir freuten uns über den Präsenzunterricht für unsere drei Kinder, auch wenn er durch einige Quarantänezeiträume unterbrochen werden musste. Eltern können nicht immer nur von anderen erwarten, dass die Kinder das bekommen, was ihnen zum Gedeihen fehlt. Mein Sohn hat nicht eine Schwimmstunde in der Schule erhalten, was bedauerlich ist; Nachholstunden gibt es auch nicht. Dann müssen die Eltern eben ran. Das ist beim Lesen, Rechnen etc. nicht anders.

  2. 7.

    Der Begriff Lockdown paßt weiterhin nicht auf diese moderierenden Maßnahmen in Deutschland - es ist eher ein Shutdown bestimmter Bereiche gewesen bei weiterhin voller Bewegungsfreiheit. Lockdown werden in Ländern mit echter Null-COVID-Strategie durchgeführt (z.Bsp. gerade in Xi'an in China). Durch die irrtümliche Verwendung dieses Begriffes wird eine strenge der Maßnahmen nahegelegt im Vergleich zu Ländern mit echten Lockdowns, wie sie niemals in Deutschland angewendet wurde - echte und strenge Lockdowns wirken auch sehr gut bei der Eindämmung von Ausbrüchen, haben natürlich auch stärkere Nebenwirkungen, Shutdowns dämmen dagen kaum das Infektionsgeschehen ein; sollte man auch bei der Diskussion über die Wirksamkeit von Lockdowns/Shutdowns strikt trennen.

  3. 6.

    Also wir haben weder etwas von den angeblichen Milliarden, den zusätzlichen Lehrern oder irgendwelchen Aufholmaßnahmen die über 1 Tag Bastelangebot in den Ferien hinausgingen nichts gesehen. Absolut gar nichts. Das ganze Jahr war gekennzeichnet von Vertretungsunterricht, Lehrerwechsel, keine Förderrichtsangebote, einfach gar nichts. Entweder unterstützt als Eltern die Kindernzu Hause oder eben nicht. Auf die staatliche Einrichtung Schule kann man sich da überhaupt nicht verlassen.

  4. 5.

    Nicht jammern - Klage einreichen - gewinnen oder scheitern

  5. 4.

    "Das abgelaufene Schuljahr in Brandenburg war ein besonderes: Es gab endlich wieder Präsenzunterricht."
    In Brandenburg ist Präsenzunterricht etwas Besonderes? Hätte vor drei Jahren wohl niemand für möglich gehalten.

  6. 3.

    solange immer noch Reli und Tüdelkram unterrichtet wird, kann der Notstand nicht soooo groß sein! Ein Konzentrieren auf Mathe Deutsch Englisch Fremdsprache 1 und Naturwissenschaften täte uns auch sonst gut. Floß bauen und Segeln ist NICHT das Spektrum, um Rückstände aufzuholen! Klar, laufen solche Kurse gut... Übrigens sind Lehrer auch Eltern, wenn deren Kind (oder Partner) Corona hat, müssen sie daheim bleiben. Dadurch fehlten gerade viele junge Lehrkräfte. Und auch die SuS waren umschichtig betroffen, da ja unsere Boosterimpfung recht unwirksam war. Also, wie im echten Leben: aufs Wesentliche konzentrieren, fertig. Und es hat noch keinem mit großen Lernrückständen geschadet, ein Schuljahr zu wiederholen. So wie 13 Jahre fürs Abi immer noch die bessere Alternative sind.

  7. 2.

    Die Wissenschaftsstudie hat massive Rückstände festgestellt. Es ist zwar nicht untersucht, aber völlig unwichtig, dass diese ohne Corona auch vorhanden sind/wären. Der Trend zu Rückständen, auch im Sozialem zeichnete sich schon länger ab. Auch die Medien müssen mithelfen, anstatt darüber zu diskutieren, ob Kinder "Guten Tag" sagen sollen oder nicht (ja sie sollen).
    Und wieder behauptet Frau Ernst etwas, was so nicht stimmt. Richtig ist, dass "sie" Geld weiterreicht. Vielleicht können Eltern hier berichten, wie die "Aufholjagd" in Deutsch und Mathe funktioniert? Diese "Aufholjagd" wäre auch ohne Pandemie überfällig... was jeder Ausbildungsbetrieb weiß.

  8. 1.

    Nach der Klassenfahrt meines Enkels kamen fast alle mit Corona zurück. Ist fatal für den geplanten Urlaub. Aber ich denke die meisten Eltern fahren trotzdem.

Nächster Artikel