Premiere am Maxim Gorki Theater - Lasst Carmen sterben

Das postmigrantische Gorki Theater nimmt sich die Klischees der exotischen, leidenschaftlichen Romni vor, wie sie in der Oper "Carmen" stecken – die süffige Dekonstruktion eines Klassikers. Von Barbara Behrendt
Wie eine Dragqueen sieht sie aus, diese Carmen, diese Femme Fatale der Operngeschichte: grell pinkes Flamencokleid, pinke Perücke, Rüschen – darunter der Körper eines Mannes, Lindy Larsson. Der, wie wir spätestens seit dem Gorki-Hit "Slippery Slope" wissen, fantastisch Musicalsongs singen kann und zudem zur Roma-Community gehört. So wie Riah Knight, ebenfalls Romni – mit ebenso guter Stimme.
In Christian Weises "Carmen"-Dekonstruktion am Maxim Gorki Theater spielt nun Larsson die mit Roma-Klischees aufgeladene Carmen, während Riah Knight mit weißen Zöpfen bis zum Boden Micaëla geben darf, die Unschuld vom Lande.
Carmen befragt die Klischees
Carmen ist hier nicht nur die Hauptfigur der einzelnen Inszenierung, sondern eine Carmen, die schon seit Jahrhunderten auf der Bühne steht, seit Jahrhunderten Klischees reproduziert und seit Jahrhunderten vom eifersüchtigen José ermordet wird. Jetzt reicht’s ihr.
Mitten in der "Habanera", dem Klassiker von der Liebe, frei wie ein Vogel, bricht Lindy Larsson das Singen ab und räuspert sich: "I want to talk to you!", spricht er das Publikum an: "Auf meine alten Tage habe ich realisiert, dass ich nicht gewinnen kann", sagt er auf Englisch. "Einerseits werde ich verurteilt, ein sexistisches Konstrukt zu sein, andererseits eine frühe Gallionsfigur der freien Liebe. Ich war meiner Zeit voraus. Obwohl meine Väter sich das anders erdacht haben".
Ihre literarischen und musikalischen Väter, Prosper Mérimée und Georges Bizet, hätten Carmen vielmehr als abschreckendes Beispiel der exotischen Frau imaginiert, die Männer ins Verderben stürzt. Carmens Geschichte wird auf der Bühne nun zwar trotzdem so erzählt, wie wir sie kennen: Carmen, die sich in der Tabakfabrik mit den anderen Frauen anlegt und dann den Soldaten José bezirzt. José, der seine Verlobte für Carmen verlässt. In ihrer Freiheitsliebe bandelt Carmen mit einem Torero an – und José bringt sie aus Eifersucht um.
Comic-Figuren und Slapstick
Doch die Tragödie wird hier, wie immer beim Regisseur Christian Weise, als Slapstick-Comedy verulkt. Bei ihm stehen wenige Menschen auf der Bühne, aber viele Comic-Figuren, die ihre Charaktere parodieren. Via Jikeli etwa spielt José als einen derart treudoofen, patriotischen Mitläufer, angelehnt an die Carmen-Parodie von Charlie Chaplin, dass man sich von Anfang an fragt, was die abgebrühte Dragqueen Carmen mit so einem prüden Langweiler will.
Kein Wunder, dass sie selbst die Beziehung schnell infrage stellt: "Wir stehen an den Extremen des Liebesspektrums: Freiheit und Abhängigkeit. Du kannst mit meiner Freiheit nicht umgehen – und ich nicht mit deiner Besitzgier".
Der Regisseur schafft also die größtmögliche Distanz zu den Figuren und baut mit neuen Texten von Lindy Larsson und Riah Knight eine Reflexionsebene ein. Carmen tritt aus ihrer Rolle heraus, beleuchtet das Geschehen – und hat mit allem Recht: damit, dass sie am Ende sterben muss, damit die männliche Ordnung der Welt wiederhergestellt ist. Damit, dass José als Opfer dargestellt wird: der brave Mann, der von der freiheitsliebenden Frau zum Femizid getrieben wird.
Schrille Kostüme und Comic-Zeichnungen
Die Ästhetik passt bestens zur Parodie. Vorneweg die schrillen Kostüme von Lane Schäfer: Micaëla trägt als Unschuld vom Lande so lange weiße Zöpfe, dass sie über den Boden schleifen. Die Brüste der Frauen sind so groß und spitz wie Schultüten. Die Soldaten stolpern in Grellgelb herum. Und die schneeweiße Bühne von Julia Oschatz bedient das Comic-Konzept. Auf den herumstehenden Rotunden erscheinen in Comic-Schrift Orts- und Szenenbeschreibungen, Kommentare oder Landschaften. So, als hätte man tatsächlich eine Graphic-Novell aufgeschlagen.
Grandiose Musik-Arrangements
Die gewaltige Oper mit den großen Chören hat Jens Dohle wunderbar für drei Musiker arrangiert und auf ein Streichinstrument, Akkordeon, Schlagwerk und Klavier reduziert. Das geht mal in Richtung spanisches Volkslied, mal Richtung Chanson oder Schlager, stets die Original-Melodien zitierend. Die Musik ist es denn auch, die den Abend trägt. Die Lieder sind derart mitreißend und, vor allem von Lindy Larsson, so warm und süffig gesungen, dass man seiner queeren Carmen durchweg an den Lippen hängt.
Das hilft denn auch darüber hinweg, dass dieser kurzweilige, schmissige Abend intellektuell schmal gerät. Absolut richtig, dass der Opern-Kanon mit Stimmen aus der Roma-Community mit feministischen und antirassistischen Texteinsprengseln befragt wird – aber muss es wirklich derart didaktisch formuliert sein? Der moralische Impetus, mit dem hier die Abschaffung von "Carmen" gefordert wird, ja, mit der Carmen ihren ewigen Bühnentod fordert, wirkt doch arg simpel – während sich die Inszenierung gleichzeitig an der schönen Musik berauscht.
Sendung: rbb24 Inforadio, 25.01.2025, 09:54 Uhr
Nächster Artikel
Katherina Reiche im Porträt - Die "harte Nuss" aus Luckenwalde
SPD stellt Ministerteam vor - Kabinett der Bundesregierung komplett
Berliner Wohnungsmarkt - Neukölln will möblierte Vermietungen nicht mehr genehmigen
Siebener-Rugby - Deutsches Rugby-Team schafft mit Berliner Trio den Sprung in die Weltspitze
Landkreis Spree-Neiße - Kraftwerk Jänschwalde unter Denkmalschutz gestellt
Nachfolgerin von Joe Chialo in Berlin - Neue Kultursenatorin Wedl-Wilson: Geigerin, parteilos - und schon im Stoff
Nach Rücktritt von Joe Chialo - Sarah Wedl-Wilson wird neue Berliner Kultursenatorin
Berlin - Kritischer Polizist erhält Drohbrief mit echter Patrone
Versorgung im Notfall - Rund ein Viertel der Notwasserbrunnen in Berlin nicht nutzbar
Autor und Hansa-Fan Marco Bertram - "Bei Hansa kann es schon eine scharfe Dynamik geben"
Verwaltungsgericht - Sperren für Autos in Berlin-Mitte sind rechtens
Kurz vor Eisheiligen - Deutscher Wetterdienst warnt vor nächtlichem Frost
DDR-Magazine "Guter Rat" und "Sibylle" - Kochbuchautorin Ursula Winnington mit 96 Jahren gestorben
ORB und rbb - "Der Sonne entgegen"-Moderator Andreas Hahn verstorben
"Innovationshof" wird erweitert - Bio-Raffinerie und Labor werden in Groß Kreutz für 14,5 Millionen Euro gebaut
Öffentlicher Nahverkehr Berlin - Mehr Fahrgäste nutzen die BVG - trotz Ausfällen und Verspätungen
Berlin-Halensee - Betreiber von privaten Schließfächern gefesselt und ausgeraubt
Änderungen im Brandenburger Haushalt - Medizinische Hochschule soll weiter mit 6,6 Millionen Euro unterstützt werden
Gedenken in Berlin und Brandenburg - Wie an den 8. Mai 1945 erinnert wird - und warum Polizeiauflagen gelten
Berlin-Reinickendorf - Zwei Tote bei Schwelbrand in Heiligensee
Neue Partnerstadt Tel Aviv - Mehr als ein Händedruck: Was Berlins Städtepartnerschaften bedeuten
Maneo-Report - Initiative registriert Höchststand an queerfeindlichen Gewaltfällen in Berlin
EU-Förderung für Landwirte - Wenn ein Teil des Feldes subventioniert wird - und der andere nicht
Frei- und Hallenbäder - In Berliner Bädern gelten jetzt neue Eintrittspreise
Bundesamt für Statistik - Brandenburg hat bundesweit zweitniedrigste Kaiserschnitt-Rate
Berliner Westen - Busse mehrerer Linien verspäten sich wegen A100-Umleitung erheblich
Aufstiegsrennen zur Regionalliga - BFC Preussen, Lichtenberg 47, Mahlsdorf – Wer gewinnt den Oberliga-Showdown?
Einigung im Tarifstreit - Ärzte der Neuruppiner Uniklinik bekommen mehr Geld
Stichwahl - Christian Hartphiel zum neuen Bürgermeister von Templin gewählt
3. Liga - Was bei Energie Cottbus für und gegen einen Sprung auf Platz drei spricht
Konzert | Mike and the Mechanics in Berlin - Dinosaurier-Musik für die Ewigkeit
Neues Konzept - Bürgermeisterin und Polizei ziehen nach Baumblütenfest in Werder positive Bilanz
Deutsche Schwimm-Meisterschaft in Berlin - Wellbrock überzeugt mit Weltjahresbestzeit
Der Sieg von Hertha gegen Fürth in der Analyse - Das Glück kennt nur Minuten
2. Fußball-Bundesliga - Immer wieder Reese: Hertha baut seine Serie mit Heimsieg gegen Fürth aus
3. Liga - Energie Cottbus fällt gegen Mannheim auseinander und bangt um Aufstiegschancen
Gropius-Passagen - 18 Verletzte bei Konzert in Neukölln - Rapper Samra: "Abartig, dreckige Aktion"
Einstufung der Partei als rechtsextrem - Innenminister der Länder wollen Umgang mit AfD-Mitgliedern im Staatsdienst prüfen
Ab Mittwoch - Künftiger Bundesinnenminister Dobrindt plant schärfere Grenzkontrollen
2. Liga - Union-Frauen stürmen ohne Katerstimmung an die Tabellenspitze
KZ Sachsenhausen und Ravensbrück - Gedenken an Befreiung der Konzentrationslager vor 80 Jahren
Interview | 80 Jahre Befreiung KZ Sachsenhausen - "Die Stimmen der Zeitzeugen werden uns fehlen"
#Wiegehtesuns | Freiwillige Gedenkstätte Sachsenhausen - "Viele Schüler wissen gar nicht, was passiert ist"
Lausitz - Kriminalpolizei ermittelt nach Waldbrand in Spree-Neiße - Verdacht auf Brandstiftung
Vor allem in der Prignitz - Wieder mehr Storchen-Paare in Brandenburg
Regionalliga Nordost - Herthas U23 kassiert späten Ausgleich bei Chemie Leipzig
Volleyball-Bundesliga - Nur in einer Halle kann es Konfetti regnen
Volleyball-Bundesliga - Berlin sichert sich Meisterschaft mit 3:0-Sieg gegen Lüneburg
Potsdamer Klinik für Geriatrie - Therapeut auf vier Pfoten
Interview | DLRG-Rettungsschwimmer - "Der Einsatz, selbst ins Wasser zu gehen, ist der gefährlichste Punkt"
Berlin - Sechs Personen bei schwerem Verkehrsunfall auf Heerstraße verletzt
Brandenburger BSW-Landeschef und Finanzminister - Crumbach will Nachfolge für BSW-Vorsitz im September klären
Wetter in der Region - Zwei Menschen nach Sturm im südlichen Brandenburg verletzt
Theatertreffen-Eröffnung - Ein eiskaltes Stück Unerbittlichkeitstheater
Teure Grenzen? - Wie Trumps Zoll-Chaos den Kunstmarkt in Aufruhr versetzt
Berliner und Brandenburger Bundesligisten in Randsportarten - Unbekannte Meister
Berlin - Sechs Autos brennen auf Autohaus-Gelände in Schöneberg
Berlin-Gesundbrunnen - E-Scooter auf Gleisen legt kurzzeitig Berliner S-Bahn-Verkehr lahm
Kneipen in Berlin - "Stadtklause" eröffnet nach einem Jahr an neuem Standort
Reaktionen in Berlin und Brandenburg - Neue Einstufung der AfD befeuert Debatte über Verbotsverfahren
Inlandsgeheimdienst - Verfassungsschutz stuft AfD-Bundespartei als "gesichert rechtsextrem" ein
Bilanz der Berliner Stadtreinigung - Besucher der 1.-Mai-Feiern hinterlassen deutlich mehr Müll als im Vorjahr