Bustour - Reise durch ein queeres Berlin, das es heute nicht mehr gibt
Die "Constellations - The Bus Tour" erkundet Berlins verdrängte queere Orte und ist eine Hommage an die Vorreiter:innen der LGBTIQ-Bewegung. Dabei bekommen nicht nur die Teilnehmenden etwas zu sehen, sondern auch einige Passanten. Von Christopher Ferner
Berlin hat heute eine fast unüberschaubare Anzahl an queeren Orten zu bieten. Selbstverständlich ist das nicht. Denn viele LGBTIQ-Treffpunkte des letzten Jahrhunderts fielen Razzien, Übergriffen und schließlich der Verdrängung zum Opfer. Damit diese nicht in Vergessenheit geraten, hat die Agentur Poligonal mit "Constellations - The Bus Tour" eine Fahrt durch Berlin organisiert, auf der diese Orte erkundet werden.
Tourstart am Ostkreuz
Los geht es nahe dem Ostkreuz in Friedrichshain. 30 Gäst:innen sind an diesem bewölkten und kühlen Samstag an Bord des 1977 gebauten Doppeldeckerbusses, der pünktlich um 12 sein erstes Ziel ansteuert: das Gründerzeitmuseum im beschaulichen Ortsteil Mahlsdorf. Obwohl es auf dem Deck wegen des offenen Daches kalt ist, ist die Stimmung unter den Gäst:innen ausgelassen. Dazu tragen auch die Popsongs von den Sugababes und Sophie Ellis-Bextor bei, die aus den Boxen schallen.
Dann ergreift die Berliner Dragqueen Bleach das Mikrophon. Mit einer großen blonden Perücke und knallrotem Lippenstift führt sie durch Berlin – und durch die queere Geschichte der Stadt. Doch zuerst geht es um die Basics: Sie erklärt den Teilnehmenden, was das Wort "Tunte" bedeutet und dass diese Bustour nicht nur lehrreich, sondern auch politisch sei – schließlich fahre der Bus gerade quer durch die AfD-Hochburg Marzahn-Hellersdorf.
Queere Selbstverteidigung
Dann fordert Bleach die Gäst:innen auf, die Kopfhörer aufzusetzen, die die Veranstalter:innen beim Einsteigen verteilt haben. Rund 13 Minuten dauert das erste Audiostück, das vor allem aus Original-Tonaufnahmen der trans Aktivistin Charlotte von Mahlsdorf und dem HIV-Aktivisten Ichgola Androgyn besteht. 1960 übernahm von Mahlsdorf das Gutshaus Mahlsdorf und baute es zu ihrem Gründerzeitmuseum um. Dort können Besucher:innen heute unter anderem die Inneneinrichtung der Mulackritze, einer 1964 abgerissenen queeren Bar, begutachten. Nach einer lyrischen Performance der Künstlerin Robin Leveroos vor dem Museum geht es für die Teilnehmenden der Tour weiter Richtung Lichtenberg.
Auf dem Weg dorthin lernen sie mehr über die sogenannten Dojos – Räume, in denen traditionelle asiatische Kampfkünste wie Judo oder Karate gelehrt werden. In den 1970er Jahren entstanden in Berlin Dojos, in denen WenDo trainiert wurde, eine Selbstverteidigungstechnik von und speziell für Frauen. Diese Trainingsräume entwickelten sich zu queeren, trans und queer-feministischen Sportstätten, in denen es nicht nur um das Erlernen von Kampftechniken ging: "Es ging auch um inhaltliche Diskussionen. Was wollen wir? Wie wollen wir was verändern? Welche Utopien haben wir?", erklärt eine Stimme im Audioguide.
Das Gelände des Don Xuan Center ist schließlich der zweite Stopp der Tour. Dort angekommen, werden die Teilnehmenden radikal in die Gegenwart katapultiert. Zwischen kargen Betonfassaden führt das queere Kollektiv "Liminal Beast of Prey" eine Wrestling-Performance auf. In knappen Outfits schreien sie und ringen sich zu Boden, nur um sich im nächsten Moment weinend in den Armen zu liegen. Zum Schluss können auch die Zuschauer:innen ein wenig Frust ablassen – wenn auch auf ganz harmlose Art und Weise. Das Kollektiv verteilt mit Wasser gefüllte Ballons, die Teilnehmenden der Tour auf den Boden und gegen die Wände der umstehenden Gebäude geschleudert werden.
Die Deutsche Oper als schwuler Treffpunkt
Wieder zurück im Bus erfahren die Passagier:innen, dass in der Samariterstraße 32 in Friedrichshain in einem besetzten Haus einst die Roots-Party stattfand, die von der "Black Girls Coalition" (BCG) zwischen 2001 und 2006 veranstaltet wurde. Das BGC wurde ursprünglich in New York als Organisation für Schwarze Nordamerikaner:innen gegründet. Später wurde das Konzept von der Dragqueen Paisley Dalton in Berlin wieder aufgegriffen. In dem besetzten Haus in Friedrichshain fanden allerdings nicht nur Partys statt. Auch Kinoabende und Rechtsberatungen wurden angeboten.
Die letzte Station befindet sich im Westen der Stadt. Die Deutsche Oper in Charlottenburg war einst ein Treffpunkt für schwule Männer. "Es war unbeschreiblich, abends in der Deutschen Oper zu einer Opernaufführung zu kommen, weil ganz viele Tunten im Fummel da unterwegs waren, also in sehr glamourösen, schrillen Outfits", erklärt Bernd Gaiser, Aktivist und Mitbegründer des SchwuZ im Audioguide.
Es ist nicht nur bewegend, Zeitzeug:innen eines queeren Berlins, das es so heute nicht mehr gibt, zuzuhören. Mit der Entscheidung, keine Sprecher:innen über die Geschichte Berlins erzählen zu lassen, werden jene Menschen honoriert, dank derer das queere Leben in der Hauptstadt erst florieren konnte. Menschen, die sich trotz Anfeindungen und staatlicher Verfolgung nicht haben unterkriegen lassen. Somit ist die Tour, wie Bleach zu Beginn erwähnte, tatsächlich nicht nur lehrreich. Sie ist eine Hommage an jene, die für ein freieres und toleranteres Berlin gekämpft haben.
Den Schlussakt der Tour bildet eine Gesangs- und Tanzperformance von Mikey Woodbridge and Lucio Vidal auf dem Platz vor dem Restaurant der Deutschen Oper – und plötzlich ist das queere Leben mitten im öffentlichen Raum angekommen. Teils neugierig, teils sichtlich erheitert gesellen sich Außenstehende dazu, machen Fotos und Videos und klatschen am Ende gemeinsam mit den Teilnehmenden der Tour begeistert in die Hände.
Sendung: Radioeins, 10.07.2024, 13:10 Uhr