Theater in der JVA Pötzensee - Ist das jetzt Orwells "1984" - oder Gefängnisalltag?

Do 23.01.25 | 11:32 Uhr | Von Barbara Behrendt
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Gefängnistheater Aufbruch: "1984" nach George Orwell; © Thomas Aurin
Audio: rbb24 Inforadio | 23.01.2025 | Barbara Behrendt | Bild: Thomas Aurin

Dem Gefängnistheater "Aufbruch" wurde vom Berliner Justizsenat der Großteil der Mittel gestrichen. Dabei zeigt auch die neue Premiere "1984" in der JVA Plötzensee, wie wichtig diese Initiative ist – für Mitspieler und fürs Publikum. Von Barbara Behrendt

Im glänzenden Gymnastikanzug steht Steven Mädel als Animateurin hoch über den Mitarbeitenden der sogenannten "Ministerien" und gibt Anweisungen zu Aerobic-Musik: "Achtung, Genossen, dies ist eure Sportzeit. Wer kann seine Zehenspitzen berühren?" Und wenig später: "Achtung, Erwachsene, dies ist eure Toilettenzeit." Nach dem Zähneputzen dann: "Achtung, Mitglieder der äußeren Partei, dies ist eure Schlafenszeit. Gute Nacht. Und vergesst nicht: Träume sind verboten. Der Große Bruder sieht euch."

Ist das jetzt George Orwells "1984" - oder Gefängnisalltag? So totalitär geht es im Gefängnis natürlich nicht zu, aber es zeigt sich bei dieser Premiere mit sechs Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee schnell, weshalb das "Aufbruch"-Theaterteam George Orwells dystopischen Überwachungsroman ausgewählt hat: Es lässt sich hinter Gittern leicht über die Spannung aus Unfreiheit und Überwachung einerseits und Glück, Freiheit, Liebe andererseits nachdenken.

Das Glück der Unfreiheit?

Bei Orwell redet sich die Gesellschaft in der Totalüberwachung allerdings ein, das eigene Glück freiwillig der absoluten Freiheit vorgezogen zu haben. Die unterdrückten Menschen glauben den Fake News des Diktators, ihre Welt würde immer besser - während Bürger:innen gefoltert, umgebracht und aus dem Gedächtnis der Gesellschaft ausradiert werden. Im Gefängnis glaubt dagegen wohl kaum einer an das große Glück in der Unfreiheit.

Doch der Stoff bietet sich an, um mit ihm über große, bedrückende Fragen nachzudenken: Wovor fürchte ich mich am meisten? Wo übersteigt meine Angst meine Liebe? Gibt es überhaupt einen Menschen, dem man bis in den Tod vertrauen kann? Winston, die Hauptfigur im Roman, wird letztlich durch die unbändige Panik vor Ratten innerlich gebrochen: Als ihm die Rattenschar direkt vors Gesicht gebunden wird, liefert er seine Geliebte Julia ans Messer. Auf der Theaterbühne im Kultursaal der JVA Plötzensee spielt Harun (die meisten Spieler möchten ihren Nachnamen nicht veröffentlichen) eindrücklich den Gefolterten Winston, der in höchster Not alles verrät, wofür er lebt.

Heitere Gesangseinlagen in der Dystopie

Aber so düster geht es hier längst nicht immer zu. Steven Mädel, der auch außerhalb des Gefängnisses schon auf der Bühne gestanden hat, spielt die Geliebte Julia kess und selbstbewusst und streut im knappen Kleid lustige Gesangs- und Tanzeinlagen ein. Auch Sadam gibt eine gelungene kleine Slapstick-Einlage zum Besten. Und wenn Ilyas, ein gelernter Opernsänger, eine Arie aus Puccinis "Tosca" singt, gibt es rauschenden Szenenapplaus.

Wirklich plausibel wird die Roman-Handlung zwar nicht, dafür verzettelt sich der Regisseur Peter Atanassow in zu vielen verwirrenden Einzelszenen, angereichert mit DDR-Verweisen und flimmernden Videobildern über grauer Büro-Kulisse. Doch dem Ensemble schaut man, bei all seinem gewaltigen Körper- und Stimmeinsatz, gebannt und gut unterhalten zu.

Wir sind eines der wenigen Projekte, die es geschafft haben, die Gefangenen immer wieder zu motivieren, sich in ein Team einzugliedern. Das ist jetzt natürlich eine extrem bittere Situation.

Holger Syrbe, Mitgründer des Theaters

Theaterspielen als Lebensrettung

Man kann nur erahnen, welche Wahnsinnserfahrung ein tosender Schlussapplaus wie an diesem Abend sein muss - für Laien, die in ihrem Leben, das erzählen viele, kaum je ein Erfolgserlebnis verbuchen konnten. Für Sadam ist das Spielen, sagt er im Anschluss, "ein Ventil", bei dem er alles rauslassen kann, was ihn bedrückt. Andere Spieler beschreiben die Theatererfahrung gar als ihre Lebensrettung.

Und auch das Publikum liebt das Gefangenentheater "Aufbruch", das sich vor über 25 Jahren gegründet hat: Rund 4.500 Besucher:innen haben die vier neuen Inszenierungen im Jahr, die Karten sind oft innerhalb einer halben Stunde ausverkauft. Klar: Theater im Gefängnis ist etwas Besonderes – und die einzige Möglichkeit, unkompliziert in Kontakt mit den Gefangenen zu kommen. Genau darum gehe es, betont die JVA-Leitung immer wieder: zu sehen, dass Gefangene normale Menschen seien, die wieder Teil der Gesellschaft werden möchten.

Das Theater ist existenziell bedroht

Umso dramatischer, dass "Aufbruch" durch den Sparkurs des Senats nun existenziell bedroht ist. Die Justizverwaltung, größte Geldgeberin des Theaters, hat ihre Zuschüsse um 70 Prozent gekürzt. Zwar gibt es dagegen große Proteste – von ehemaligen Berliner Justiz-Senator:innen, von Prominenten wie Claus Peymann, Edgar Selge und Leander Haußmann, von mehr als 6.000 Unterzeichner:innen eines offenen Briefs an den Senat. Und auch von Matthias Pees, dem Intendanten der Berliner Festspiele, der am Mittwoch sogar bei der Pressekonferenz des Theatertreffens auf die missliche Lage von "Aufbruch" hingewiesen und um Spenden geworben hat.

Doch es sieht weiterhin nicht gut aus. "Wir haben bisher vier Projekte pro Jahr gemacht, jetzt sind vielleicht noch zwei möglich", sagt Holger Syrbe, Mitgründer des Theaters. "Wir sind eines der wenigen Projekte, die es geschafft haben, die Gefangenen immer wieder zu motivieren, sich in ein Team einzugliedern. Das ist jetzt natürlich eine extrem bittere Situation." Das Theater sucht nach Spenden, nach Sponsoren – und nach mehr Unterstützung im Senat. Das Geld reicht höchstens noch bis zum Sommer.

Sendung: rbb24 Inforadio, 23.01.2025, 07:55 Uhr

Beitrag von Barbara Behrendt

2 Kommentare

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  1. 2.

    Und wenn es nur Einer ist, der es dadurch schafft, umzudenken & vielleicht irgendwann ein normales Leben führen zu können. Einfach nur wegsperren, bringt eben nicht viel. Nach der Haft fängt oft alles wieder von vorn an.

  2. 1.

    Interessant wäre mal zu wissen, wie viele Gefangene pro Projekt in das Team eingegliedert werden konnten. Auch die Besucherstruktur würde mich interessieren, also wer geht in den Knast um Kultur zu erleben? ich denke nämlich, dass dies ein aufgebauschtes Prestigeprojekt ist.

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