Wie sich Tinder und Co. jetzt verändern - Virtuelle Liebe in Zeiten der Corona-Isolation

So 05.04.20 | 09:44 Uhr | Von Sophia Wetzke
Ein Mann genießt das schöne Wetter und sitzt auf einer Mauer und schaut auf sein Smartphone, im Hintergrund steht der Fernsehturm. (Quelle: dpa/Jörg Carstensen)
Audio: Radioeins | 01.04.2020 | Interview mit Sophia Wetzke | Bild: dpa/Jörg Carstensen

Dating-Apps waren bisher eine sichere Bank für schnelle Treffen und, nicht selten, schnellen Sex. Spontane Dates in der Bar sind in Zeiten von Corona kein Thema mehr. Dennoch suchen Singles digital nach Nähe - offenbar jetzt erst recht. Ein Selbstversuch von Sophia Wetzke

Was Sie jetzt wissen müssen

"Sophia, freut mich! Geht es dir mental gut zur Zeit?" Als Nick (Name von der Redaktion geändert) mir diese Nachricht schickt, müssen wir beide lachen. Dass so viel ehrliches Mitgefühl in einer ersten Chatnachricht stecken würde, und das ausgerechnet auf der als oberflächlich geltenden App Tinder, hätte ich mir bis vor wenigen Wochen nicht vorstellen können.

Tausende Menschen nutzen Dienste wie Bumble, Hinge, Grindr, Scruff oder OkCupid. Dating per App gehört heute zur Standardausstattung bei der Suche nach ein bisschen Körperlichkeit oder der großen Liebe. Vor allem in den Großstädten ist das schnelle Durchblättern durch die simpel gehaltenen Profile – ein paar ansprechende Fotos, Eckdaten zu Alter und Körpergröße, schmissiger Steckbriefsatz – zu verlockend, um sich nicht regelmäßig damit die Zeit auf der Couch zu vertreiben. Wenn zwei sich mögen, gibt es ein "Match" und die Möglichkeit zu chatten. Dann trifft man sich meistens nach ein paar knappen Nachrichten, trinkt sich gemeinsam die Nervosität weg, landet häufig miteinander im Bett und manchmal sogar in einer langen Beziehung.

Digitale Brieffreundschaft statt One-Night-Stand

"So viel habe ich hier bisher noch nie geschrieben, ich treffe mich sonst recht schnell", meint Nick. Das steht aber derzeit wegen der Einschränkungen durch das Coronavirus nicht zur Option, deswegen wird Tinder für uns innerhalb weniger Abende zur Plattform einer digitalen Brieffreundschaft. In stundenlangen Nachrichtenverläufen erzählen wir uns Details aus unseren Leben. Nach dem zweiten Abend weiß ich, wie seine Ex-Ehe war, wo seine Geschwister leben, wie sein Wohnzimmer gestrichen ist, welches Instrument er spielt und wo er Segeln gelernt hat. Ich schicke Fotos von meiner Katze, berichte von meiner Beziehungsvergangenheit, teile melancholische Songs, die wir uns zeitgleich auf Youtube anhören. Das wirkt unschuldig, seltsam vertraut und lässt fast vergessen, dass Apps wie diese normalerweise ein Ort sind, an dem vermutlich jeder und jede schon mal ungefragt Nacktbilder oder sexistische Anmachsprüche gedrückt bekommen hat.

Webcam-Date im Wohnzimmer

Isolation und Quarantäne stellen unsere Beziehungen zu anderen Menschen auf eine harte Probe. Das ständige Beisammensein auf engem Raum könnte zu mehr Scheidungen und Beziehungskrisen führen. Aber auch Singles leiden, und zwar am anderen Ende des Ausnahmezustandes. In der unfreiwilligen Askese wiegt das Alleinsein besonders schwer. "Ich habe viele Freunde und Kontakte, aber die körperliche Einsamkeit ist jetzt hart", sagt meine Bekannte Liza, die sich direkt auf einem neuen Datingportal angemeldet hat. "Die meiste Zeit ist es ok, aber wenn die emotionalen Tiefpunkte kommen, wäre es schön, wenn jemand da wäre, der einen aufmuntert."

Viele Freundinnen und Freunde von mir suchen jetzt auf Datingapps nach Anschluss. Und werden dabei kreativ, so wie Adriana. In den vergangenen Wochen habe sie sich mit ihren Dates zum Spazieren auf dem Tempelhofer Feld getroffen. Dann wurden die Kontaktbeschränkungen strenger und sie sei auf Webcam-Dates umgestiegen. Wein trinken vor der Laptopkamera und sich unterhalten. "Was ich jetzt schon sagen kann ist, dass das viel intimer ist als in einer Bar. Der Mensch schaut quasi direkt in deine Wohnung und man hat keine Ablenkung, wenn es irgendwie peinlich wird."

Vor allem in den Risikogebieten wird mehr und länger gechattet

Tatsächlich verzeichnet Tinder einen Anstieg in der Schlagzahl und Länge der verschickten Nachrichten. In der vergangenen Woche wurden 25 Prozent mehr Direktnachrichten versendet, bestätigt die Pressestelle die Datingdienstes. Dies sei ein europaweiter Trend. Vor allem in Gebieten mit besonders vielen Fällen von Covid-19 und besonders strikten Ausgangsbeschränkungen schrieben sich Menschen nicht nur häufiger, sondern insgesamt auch längere Nachrichten. Seit einigen Tagen warnen Dienste wie Tinder und Bumble aber explizit vor analogen Treffen und verschicken regelmäßige Warnhinweise an seine Nutzerinnen und Nutzer. "Wir wollen absolut klarstellen, dass es nicht der richtige Zeitpunkt ist, sich mit seinen 'Matches' persönlich zu treffen", heißt es da mit Verweis auf die aktuellen Empfehlungen der WHO. Am vergangenen Wochenende kommt mir die Tinder-App ausgesprochen langsam vor, stürzt immer wieder ab. Überlastete Dating-Apps durch Corona?

Ich habe viele Freunde und Kontakte, aber die körperliche Einsamkeit ist jetzt hart.

Liza

Der Reiz des heimlichen Treffens

All meine "Matches" bestätigen, sich bereits seit Wochen nicht mehr mit Fremden für Dates zu treffen. Geben aber zu, der Reiz sei groß und das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, mache die Sache extra aufregend. Und es scheint auch weiterhin Menschen zu geben, die auf sexuelle Kontakte mit Fremden nicht verzichten möchten. "Suche Quarantäne-Partnerin, Klopapier, Gin Tonic und Dachterrasse vorhanden", schreibt ein gewisser Christoph auf Tinder. Eine Freundin erzählt, ein Mann habe sie in seinen Schrebergarten mit Laube zum Heimkino einladen wollen. Ein anderer Freund berichtet, wie eine Frau ihn zum Sexdate drängen wollte, obwohl sie kurz vorher aus NRW wiedergekommen war. "Ich will dich infizieren", sei der Spruch dazu gewesen. Als meine beste Freundin ein Sex-Angebot mit Verweis auf Social Distancing ablehnt, fällt dem Fragesteller ein, dass er ja selbst in Quarantäne sei.

Online-Dating für alle, die Online-Dating blöd finden

Doch das scheint die Ausnahme zu sein. Meine Chats der letzten Tage wirken überraschend respektvoll, tiefgründig, interessiert. Wer jetzt auf Tinder und Co. unterwegs ist, scheint Redebedürfnis zu haben und der Abwesenheit von echten Berührungen wenigstens virtuelle Streicheleinheiten entgegensetzen zu wollen. Vielleicht bricht jetzt die Ära an für jene, denen Dating-Apps sonst immer zu oberflächlich und triebgesteuert waren – endlich Zeit, sich in Ruhe mit Nachrichten und Telefonaten besser kennenzulernen, ohne Druck und falsche Erwartungen.

Als ich Tinder nach einer Woche wieder von meinem Handy lösche, schicke ich Nick noch meine Nummer. Der Einzige, den ich aus gut einer Woche digitalem Isolationsdating "mitnehme". Vielleicht treffen wir uns ja wirklich mal, wenn das alles vorbei ist und Anfassen wieder erlaubt. Sofern der Alltag nicht dazwischenkommt.

Sendung: Radioeins, 01.04.2020, 17:40 Uhr

Beitrag von Sophia Wetzke

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