Interview | Politikwissenschaftler über dänischen Sonderweg - "Die Dänen empfanden die Corona-Maßnahmen nicht als besonders ermüdend"
Am 1. Februar hat die dänische Regierung alle Corona-Maßnahmen für beendet erklärt, trotz sehr hoher Fallzahlen. Für den dänischen Politikwissenschaftler und Regierungsberater Michael Bang Petersen vor allem eine Frage des Vertrauens.
rbb: Dänemark hat eine der höchsten Impfquoten in Europa und nur halb so viele Corona-Todesfälle pro Million Einwohner zu verzeichnen wie Deutschland. Warum hat Dänemark die Pandemie bislang so gut überstanden und konnte früher als die meisten anderen zur Normalität zurückkehren?
Michael Bang Petersen: Ein zentraler Teil der Erklärung liegt in dem großen Vertrauen der Dänen in die Gesundheitsbehörden und einem hohen Maß an Vertrauen zueinander. Das bedeutet, dass es einfacher ist, sich einig zu werden: Was ist das für eine Bedrohung, der wir gegenüberstehen? Was ist das Ziel, das wir erreichen wollen und das den Maßnahmen zugrunde liegt. Die Bürger:innen vertrauen den Lösungen, die die Gesundheitsbehörden ihnen vorlegen, und folgen ihnen. Die breite Bevölkerung verfolgt dieselbe Strategie.
Woher kommt dieses Vertrauen?
Das liegt – in Dänemark ähnlich wie in den anderen skandinavischen Ländern – zum einen an der Abwesenheit von Korruption. Wenn die politischen Institutionen funktionieren und die Menschen ihnen vertrauen, vertrauen sie auch einander. Außerdem sind die skandinavischen Länder geprägt von einem hohen Maß an Gleichberechtigung. Auch das schafft Vertrauen in die Behörden und zueinander. Wir haben das Gefühl, alle im selben Boot zu sitzen. Es hilft natürlich auch, eine relativ kleine, ethnisch homogene Gesellschaft zu sein. Das macht es leichter, ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen.
Wenn Staatsministerin Mette Frederiksen zusammen mit ihrem Gesundheitsminister, dem Leiter der Gesundheitsbehörde und anderen Fachleuten neue Corona-Maßnahmen angekündigt hat, fand das immer in einer klaren, verständlichen Sprache statt. Das war Kommunikation auf Augenhöhe mit den Bürgern, da wurden auch mal Witze gerissen. Ist das eine weitere Erklärung dafür, dass die Dänen sich zum Großteil an die Regeln gehalten haben und dass es zum Beispiel viel weniger Proteste als in anderen Ländern gab?
Die Dänen haben traditionell großes Vertrauen in die Behörden und in die Politik. Die Handhabung der Pandemie an sich hat dann zur Aufrechterhaltung dieses Vertrauens beigetragen. Wir können anhand unserer Daten sehen, dass die Bürger sich gut informiert fühlten. Auf die Frage "Weißt Du, wie Du Dich verhalten sollst?" antworteten 90-95 Prozent der Befragten mit "Ja”. Auch das Gefühl von Transparenz ist entscheidend für die Vertrauensbildung; dass man gewillt ist, Komplexität, Unsicherheiten und unangenehme Wahrheiten zu kommunizieren.
Der letzte Faktor ist, dass die Dänen sich relativ wenig einsam fühlten und dass sie die Corona-Maßnahmen nicht als besonders ermüdend empfanden. Das hat Dänemark hinbekommen dank einer relativ ausbalancierten Handhabung: Man hat gelockert, wenn man konnte und angezogen, wenn es notwendig war. So konnten wir diese langen, harten Lockdowns, wie es sie zum Beispiel in Großbritannien und Frankreich gab und die den Leuten sehr viel abverlangen, vermeiden.
Hat auch die weit vorangeschrittene Digitalisierung der Gesellschaft und den Behörden bei der Bewältigung der Pandemie geholfen?
Das hat sicher in vieler Hinsicht geholfen. Es war dadurch einfacher, das Impfprogramm umzusetzen, als zum Beispiel in Deutschland. Denn dank der digitalen Infrastruktur konnten die Behörden den jeweiligen Bürger:innen einfach eine Nachricht schicken: Jetzt bist Du dran. Und als Bürger:in musste man nichts anderes tun, als auf diese Nachricht zu warten.
Die Digitalisierung hat auch die Beobachtung der Pandemie leichter gemacht. Wir haben in Dänemark die Bevölkerung massiv auf das Virus getestet; die Ergebnisse wurden direkt in das System eingespeist. Wir haben auch einen großen Anteil der Proben sequenziert und wussten immer genau, welche Variante uns gerade Ärger bereitet. Wir bekommen dank der digitalen Infrastruktur auch immer genaue Daten aus den Krankenhäusern: Aus welchem Grund sind die Leute im Krankenhaus?
Die Tatsache, dass wir so ganz genau und in Realzeit sehen können, wie die Situation gerade ist, hat dazu beigetragen, dass Dänemark sich getraut hat zu sagen: Wenn wir unsere Daten ansehen, gibt es keine Hinweise darauf, dass die Krankenhäuser unter Druck geraten. Deshalb trauen wir uns, die Restriktionen aufzuheben.
Was können Sie über das Verhalten der Dänen seit dem Ende der Corona-Maßnahmen sagen?
Das Ende der Maßnahmen hatte keine sehr starken Auswirkungen auf das Verhalten der Dänen. Es ist eher eine fließende Bewegung in Richtung Normalität, die schon Mitte Januar begonnen hat. Damals fingen die Dänen an zu fühlen, dass das Virus keine so kritische Bedrohung für die Gesellschaft ist, wie man befürchtet hatte. Man fing an, wieder mehr Leute zu treffen und die verschiedenen Empfehlungen etwas leichter zu nehmen. Dieser Trend wird sich im Laufe der nächsten Wochen vermutlich fortsetzen.
Gleichzeitig ist es nicht so, dass die breite dänische Bevölkerung das Gefühl hat, die Pandemie sei vorbei. Wir beobachten, dass die Leute vorsichtiger und weniger sozial aktiv sind als im September 2021, als das letzte Mal die Corona-Maßnahmen in Dänemark aufgehoben wurden. Das hat natürlich damit zu tun, dass wir im September nahezu keine Epidemie in Dänemark hatten. Jetzt hingegen sind wir in einer Situation, in der wir sehr hohe Fallzahlen haben.
Wenn man die dänische Corona-Politik verstehen will, dann ist es wichtig zu sagen, dass es nicht darum geht, dass Dänemark die Pandemie für beendet erklärt. Das wird in manchen internationalen Medien so dargestellt. Es ist vielmehr die Einschätzung, dass die Krankenhäuser momentan nicht unter Druck stehen und deshalb wurden die Maßnahmen beendet. Was die Zukunft bringt, weiß natürlich keiner.
Was können andere Länder in der Pandemie von Dänemarks Corona-Politik lernen?
Ich denke, wie gesagt, dass Vertrauen ein wichtiger Faktor ist. Politiker und Behörden sollten überlegen: Was können wir tun, um Vertrauen aufzubauen? Denn die Verantwortung dafür liegt bei ihnen. Sie müssen sich trauen, offen und klar zu kommunizieren, sowohl Positives als auch Negatives. Man sollte zugeben, dass man Fehler machen wird, dass man vielleicht schon Fehler gemacht hat.
Es ist mir auch wichtig zu sagen, dass es viele Beispiele für schlechte Kommunikation und Fehler in der dänischen Corona-Politik gab. Aber alles in allem hatten die Dänen das Gefühl, klare Informationen zu bekommen.
Außerdem ist es wichtig, ein Ziel zu definieren. Was möchte man mit seiner Politik erreichen? Welche Bedrohung versucht man abzuwenden? Das wird besonders deutlich in der Omikron-Welle. Wenn man Omikron unterdrücken möchte, muss man maßnahmentechnisch wirklich hart zupacken. Man muss entscheiden: Akzeptieren wir hohe Inzidenzen und konzentrieren uns darauf, schwere Krankheitsverläufe zu verhindern? Oder sind wir so besorgt über eventuelle Spätfolgen von Covid, dass wir versuchen, Infektionen zu unterdrücken und nehmen die Kosten in Kauf, die das für die Wirtschaft und das Wohlbefinden hat und setzen dabei einige demokratische Rechte außer Kraft?
Spätfolgen wie Long Covid haben in der öffentlichen Debatte in Dänemark nie eine große Rolle gespielt. Warum nicht?
Das stimmt. Es ist aber nicht so, dass die Leute nicht über Spätfolgen nachdenken. Unsere Zahlen zeigen, dass rund die Hälfte aller Dänen besorgt sind, was Spätfolgen angeht. Ich glaube aber, dass die Sorgen der dänischen Bevölkerung eher sozialer Art sind, viel mehr als persönlicher Art. Die Dänen hatten nicht so sehr Angst davor, selbst angesteckt zu werden. Vielmehr lag der Fokus auf der Auslastung der Krankenhäuser. Die Dänen waren bereit, sehr weit zu gehen, um das Krankenhauswesen nicht zu überlasten. Gleichzeitig waren sie gewillt, persönliche Risiken zu akzeptieren, die kommen, wenn man angesteckt wird.