Sonnenstich, Massenpanik, Anschlag - Wie sich Berlins Gesundheitsversorgung auf Millionen EM-Gäste vorbereitet

2,5 Millionen Fans werden zur EM erwartet. Vier Wochen Party Ausnahmezustand für das medizinische Personal auf Fanmeile, im Olympiastadion und beim Public Viewing sowie in Kliniken. Wie bereitet sich Pflege und Ärzteschaft auf das Megaevent vor? Von Jenny Barke
- Berliner Rettungsstationen problen regelmäßig den Ernstfall, so gab es auch eine Übung vor der Fußball-EM
- Rettungsstellen schon ohne Ernstfall überlastet, kritisiert die Berliner Krankenhausgesellschaft
- Viele engagierten sich freiwillig, machten Überstunden
- Brief mit Forderung an den Senat, Mehraufwand von einer Million extra bereitzustellen
- Senat begründet, warum er nur die Hälfte für die Versorung während der EM extra zahlt
Alarm auf der Rettungsstation des Klinikums Friedrichshain: 100 Verletzte kommen gleichzeitig in Rettungswägen an, haben teils schwerste Verletzungen, Schusswunden an Armen und Beinen, Blutungen, Verbrennungen. Viele schreien vor Schmerzen, einige sind in Panik, bitten dringend um Hilfe. Das Klinikpersonal beginnt sofort das Chaos zu sortieren, am Eingang teilen Triageärzte die Verletzten nach den erforderlichen Behandlungen ein.
Das Szenario ist fiktiv, aber es wirkt täuschend echt: Im Krankenhaus Friedrichshain findet eine Notfallübung statt, um den Ernstfall zu erproben. Die Schauspieler mit Kunstblut und aufgeschminkten Verletzungen setzen einen Ablauf in Gang, der regelmäßig geübt werden muss: eine Katastrophe mit "Massenanfall", wie es im Fachjargon heißt. Also Fälle wie Karambolagen auf der Stadtautobahn, Zugunglücke oder, wie bei diesem erprobten Szenario eine Explosion und Schusswechsel auf der Fanmeile.
Für diesen Ernstfall, das zeigt die Übung, ist das Klinikpersonal gewappnet. Allerdings: Es würde, würde er wirklich eintreten, bis zur Belastungsgrenze arbeiten. Denn Personal ist schon ohne Katastrophen knapp, die Rettungsstellen personell und finanziell unterversorgt, kritisiert die Berliner Krankenhausgesellschaft.
Übung für ein Szenario, von dem man hofft, dass es nicht eintritt
Der Senat organisiert diese Übungen etwa alle sechs Wochen in je einer der 37 Rettungsstellen, diesmal im Klinikum Friedrichshain mit einem EM-nahen Beispiel, erklärt Ellen Haußdörfer, Staatssekretärin für Gesundheit: "Das ist notwendig, damit im Katastrophenfall nicht nur eine Mappe in der Schublade liegt." Der Notfall wird geübt, weil er "hoffentlich nie eintritt", und deshalb keine Routine darstellt. Ad hoc sitzen muss die Versorgungskette dennoch. Dafür sind 250 medizinische Beschäftigte zur Übung alarmiert und freiwillig in die Klinik gekommen.
Auf persönlichem Engagement beruht allerdings wohl oft auch die reale Versorgung in den kommenden Wochen. Denn mehr Personal für extreme Szenarien haben die Kliniken nicht extra gestellt. "Wir können keine zusätzlichen Kräfte temporär einstellen, dazu bräuchten wir eine zusätzliche Refinanzierung, die es derzeit nicht gibt", sagt Christoph Lang, Sprecher von Vivantes, dem Klinikbetreiber unter anderem des Krankenhauses in Friedrichshain. In den Dienstplänen werde das Megaevent EM zwar berücksichtigt, aber die Verstärkung der Schichten beruhe auf Freiwilligkeit, so Lang.
Krankenhausgesellschaft fordert finanzielle Kompensation vom Land
Das kritisiert die Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG). Schon ohne die Europameisterschaft arbeiteten die Häuser ständig am Limit, in Berlin wie bundesweit befänden sich die Krankenhäuser in einer wirtschaftlichen Schieflage, heißt es auf rbb-Anfrage.
Die Kliniken "leiden unter deutlichem Investitionsstau und einer krassen Unterfinanzierung der Betriebskosten". Deshalb sei es für die BKG nicht nachvollziehbar, dass der Senat erneut seine finanziellen Aufgaben nicht vollständig angehe: "Die speziellen Anforderungen an Groß-Events sind eigentlich bekannt – ausreichende Kalibrierung der gesundheitlichen Versorgung im öffentlichen Raum, zusätzlicher Personalbedarf in den Krankenhäusern. Leider wird hier für die EM 2024 zu wenig gemacht", teilt BKG-Chef Marc Schreiner dem rbb schriftlich mit.
Kliniken fordern 1 Mio. Euro vom Senat
Die BKG fordert vom Senat deshalb, den zusätzlichen Aufwand für Personal und Sicherheit zu finanzieren. Mit einem finanziellen Mehraufwand von einer Million Euro rechnet der Chef der Berliner Krankenhausgesellschaft, Marc Schreiner. Der Senat will davon nur die Hälfte, also zusätzlich 500.000 Euro, für die Versorgung während der EM an die Kliniken zahlen.
Der Senat schreibt auf rbb-Anfrage, dass man die Kalkulation der Kliniken "zur Kenntnis genommen und ausgewertet" habe. Man habe die Kalkulation auf ein "als ausreichend anzusehendes Maß reduziert". Zudem habe der Senat einberechnet, dass "ähnlich wie bei Polizei- und Feuerwehreinsätzen" das Gesundheitssystem als "öffentliche Daseins-Vorsorge zu verstehen ist". Damit seien notwendige "(notfall-)medizinische Behandlungen grundsätzlich durch die Krankenversicherungen finanziell abgedeckt".
Versorgung auf Fanmeile, im Olympia-Stadion und beim Public Viewing
Trotz der ungeklärten Zusatzfinanzierung sieht sich Krankenhausbetreiber Vivantes gut auf die EM vorbereitet, so Sprecher Christoph Lang. Die Simulation sei zufriedenstellend verlaufen. "Es ist nicht zu erwarten, dass unsere Krankenhäuser in ihrem Betrieb stark beeinträchtigt werden, der reguläre Betrieb geht weiter und es werden weder planbare Operationen abgesagt noch Patienten verlegt." Allerdings, so räumt auch er ein, ohne konkreter zu werden: "Wenn von Seiten des Landes eine temporäre Verstärkung gewünscht wird, muss das Land das auch finanzieren." Ob sich Vivantes an den Forderungen von einer Million Euro Kompensation für den Mehraufwand beteiligt habe, werde der Krankenhausbetreiber nicht kommentieren.
Neben den 37 Rettungsstellen der Stadt sind auch Notfallsanitäter auf den Fanmeilen, im Olympia-Stadion und beim Public Viewing gefragt. Hier arbeiten zusätzlich 120 medizinische Kräfte der Hilfsorganisationen ASB und DRK und versorgen ambulant kleinere medizinische Notfälle wie Dehydrierung und Alkohol- oder Drogenvergifungen, Schürfwunden und Insektenstiche. Aber auch für extremere Ereignisse habe das DRK geübt, sagt Katastrophenschutzleiter Lee Schumann: "In der Vorplanung haben wir eng mit der Berliner Feuerwehr und dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zusammengearbeitet." Selbst auf Angriffe mit Chemikalien sei man besonders vorbereitet.
Was passiert bei Platzmangel auf Fanmeile?
Schumann ist erfahren in der Organisation und Leitung von Großereignissen, hat viele Jahre die Internationale Luft- und Raumfahrtausstellung ILA betreut. Trotz einiger Routine: Die EM sei nochmal spezieller: "Es gibt viel mehr Abstimmungsbedarf zwischen den Veranstaltern, zwischen den Senatsverwaltungen und Gefahrenabwehrbehörden", sagt er.
Der Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG) reichen diese Abstimmungen nicht. Denn die zwei Millionen Gäste würden nicht nur auf den Fanmeilen eine gesundheitliche Zusatzversorgung benötigen. Es fehle ein Konzept für den Fall, dass Fußballinteressierte wegen Platzmangels an der Fanmeile abgewiesen und dann in großer Zahl an anderen Orten die EM schauen wollen würden.
Krankenhausbewegung kritisiert fehlende Voraussicht
Eine Sorge, die auch die Berliner Krankenhausbewegung, der Zusammenschluss der verdi-Betriebsgruppen von Charité, Vivantes und dem Jüdischen Krankenhaus, hat. Die Basics seien nicht mitgedacht worden, als man sich für die EM entschieden habe, kritisiert Alexander Eichholtz, Ex-Krankenpfleger und Vorsitzender der Berliner Krankenhausbewegung: "Dass man da nicht gleich mitdenkt und sagt, haben wir da ein Personalkonzept und eine Finanzierungsidee, ich wünschte mir da ein bisschen mehr prospektive Planung."
Stattdessen mache das vorhandene Personal Überstunden und arbeite freiwillig mehr - so der Gewerkschafter - damit die Millionen Gäste bei der EM medizinisch gut betreut sind.
Sendung: rbb24 Inforadio, 14.06.2024, 6 Uhr