Oper | "Sancta" an der Volksbühne - Mehr als ein Skandal

Sa 16.11.24 | 09:08 Uhr | Von Maike Gomm
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n Stuttgart versetzte die Inszenierung der Oper „Sancta“ der Tanz- und Performancekünstlerin Florentina Holzinger das Publikum und die Boulevard-Presse in Aufregung. Bei der Premiere in Berlin blieb es ruhig, zumindest bis zum tosenden Applaus am Ende. (Bild: Nicole Marianna Wytyczak)
Audio: rbb24 Inforadio | 16.11.2024 | Barbara Behrendt | Bild: Nicole Marianna Wytyczak

In Stuttgart versetzte die Inszenierung der Oper "Sancta" der Tanz- und Performance-Künstlerin Florentina Holzinger das Publikum und die Boulevard-Presse in Aufregung. Bei der Premiere in Berlin blieb es ruhig, zumindest bis zum Ende. Von Maike Gomm

Die Aufführung beginnt, bevor man das Theater überhaupt betreten hat. "Heilige Maria, Mutter Gottes, bete für uns Sünder" schallt es einem schon auf dem Weg zum Rosa-Luxemburg-Platz entgegen. Es sind keine Schauspieler, wie manche Passanten mutmaßen, sondern christliche Fundamentalisten des Vereins "Tradition, Familie und Privateigentum", die gegen die Aufführung demonstrieren. Mit ihren roten Fahnen, Bannern und Blasmusik hätte sie kein Profi besser inszenieren können.

Bis zu 1.000 Euro für ein Ticket

"Sancta" ist aber nicht wegen Blasphemie-Vorwürfen zur "Skandal"-Oper geworden. Bei den ersten zwei Aufführungen an der Staatsoper Stuttgart mussten laut Angaben der Oper 18 Menschen vom Besucherservice wegen Übelkeit versorgt werden, dreimal brauchte es ärztliche Hilfe. Die mediale Berichterstattung tat ihr übriges.

Der Nachfrage schadete das nicht. Die zwei Berliner Vorstellungen waren innerhalb weniger Minuten ausverkauft. Im Internet boten Menschen bis zu 1.000 Euro für ein Ticket. Dabei war "Sancta" vorher schon in Schwerin und Wien gezeigt worden – ganz ohne Zwischenfälle.

Auch schon vor hundert Jahren war "Sancta" ein Skandal

Auch in Berlin brauchte es keinen Arzt. Zumindest das Berliner Stammpublikum der Volksbühne kennt die Arbeiten von Florentina Holzinger allerdings auch schon und weiß, dass das kein normaler Opernabend wird.

Holzingers Arbeiten sind immer radikal körperlich und weiblich. Auf der Bühne stehen nur FLINTA (Frauen, Lesben, Inter-, Trans-, Agender) und alle sind nackt. Es passt also, dass sie sich gerade die Oper "Sancta Susanna" von Paul Hindermith als neuen Stoff ausgesucht hat. Die Nonne Susanna entdeckt plötzlich ihre Sexualität und wird daraufhin von den anderen Nonnen ausgestoßen. Der Stoff ist aus den 1920er Jahren und löste schon damals einen Skandal aus. Die geplante Uraufführung in Stuttgart (!) wurde verboten. Die Katholische Kirche war erzürnt.

Holzingers "Sancta" beginnt zwar mit genau dieser Oper, entwickelt sich dann schnell zu einer Mischung aus Performance, Musical, Spektakel, Pop-Phänomen. Alles davon wird musikalisch von einem Orchester begleitet. Die Dekonstruktion der Kirche und das Verhandeln von Weiblichkeit sind dabei die Themen, die alles verbinden. Das beginnt schon damit, dass als Auslöser für das sexuelle Erwachen der Nonne eine offensive lesbische Sexszene dient, die auf einem schwebenden, von Neonröhren beleuchteten überdimensionalem Kreuz endet – und übrigens nicht gestellt ist.

Absolutes Überwältigungstheater

Was folgt, ist ein systematisches Auseinandernehmen und Überschreiben kirchlicher Erzählungen und Symbole: Monologe eines Hippie-Jesus, eine lesbische Päpstin, das Abreißen der Sixtinischen Kapelle und ein Reenactment des letzten Abendmahls mit Menschenfleisch (was der Auslöser für die Stuttgartsche Übelkeit gewesen sein dürfte). All das wird hochästhetisch inszeniert. Holzinger zerstört nicht nur die Ikonografie der Kirche, sondern ersetzt diese mit ihrer eigenen.

Das ist auch das, was die Inszenierung trotz einiger Längen so stark macht. Sie erschafft Bilder von Weiblichkeit, wie man sie selten sieht. Bilder von Wut, Witz, Stärke, Präsenz, Lust, Radikalität und Macht. Besonders stark sind dabei auch die ruhigen Momente, wenn die Performerinnen von sich selbst erzählen, wie sie unter der Kirche und unter Männern gelitten haben, ohne dabei jemals in eine Opferperspektive zu verfallen. Im Gegenteil: Sie nutzen sogar ihre Geschichten, um zu begründen, warum sie Heilige sein sollten.

"Sancta" ist mehr als ein Skandal

Wer nur die Schlagzeilen gelesen hat, könnte denken, dass "Sancta" reine Provokation ist. Doch das würde der Inszenierung Unrecht tun. Bei Holzinger gibt es immer Gründe für das, was die Performerinnen tun, die Drastik ist notwendig. Denn nichts was die Performerinnen sich selbst antun, ist so grausam wie das, was sie als Frau außerhalb des Theaters erlebt haben. Und das gilt selbst für den Moment, indem einer der Performerinnen ein (sehr kleines) Stück Haut herausgeschnitten wird.

Trotz der Härte, die die Inhalte zum Teil haben, ist "Sancta" nie bitter. Es gibt Wut, aber eben auch viel Leichtigkeit. Zum Beispiel am Ende, wenn das gesamte Publikum aufsteht und gemeinsam singt. In dieser letzten Szene gibt "Sancta" Hoffnung, Erlösung und Gemeinschaft. Fast so wie die Kirche.

Sendung: rbb24 Inforadio, 16.11.2024, Der Morgen, 10 Uhr

Beitrag von Maike Gomm

58 Kommentare

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  1. 58.

    Lieber Cujo, das sehe ich etwas anders, Kunst sollte mal " erfreuen ", " erbauen", zum Abschalten vom Alltag sein, aber egal. Es geht mir in keiner Weise um Recht haben, ich meine eben nur, in Zeiten, wo in der Kulturszene gekürzt werden soll, wäre es doch sinnvoll, etwas dafür zu tun, dass die Theater wieder voller werden und nicht auf Stücke zu setzen, die auf das "Unwohlsein " setzen. Ich bezahle doch nicht so viel Geld, damit mir übel wird. Hab gerne vor ein paar Wochen für die Caspar David Friedrich Ausstellung angestanden und bezahlt. Bei den vielen Menschen die auch vor Ort waren, glaube ich auch nicht, dass diese Ausstellung großartig subventioniert werden musste. Aber wie gesagt, es geht nicht um Recht haben, sondern um die Überlegung, ob in Zeiten sehr knapper Gelder so viel Geld für so provokante Kunst ausgeben wird oder, wenn sie doch so begehrt sein soll, sollte sich der Aufwand doch selber tragen.

  2. 56.

    Wenn Sie eine irgendwie geartete Interaktion zwischen Künstlern, Betrachtenden und Rezipienten eine Drangsal oder die Einforderung irgendeiner "Schuld" erkennen, so empfinde ich dies als recht beredt. ;-

  3. 55.

    Kirche abschaffen, inkl. Caritas und Diakonie. Auf dass die Welt genese ....

  4. 54.

    Da irren Sie gewaltig. Die Kunstfreiheit die vom Grundgesetz garantiert wird hat ihre Schranken in den allgemeinen Gesetzen und dazu gehören nun einmal das StGB und das Jugendschutzgesetz oder warum meinen Sie sind z.B. Fotos von nackten Kindern strafbar oder gewisse Spielarten von Porno?

  5. 52.

    Kunst sollte schon immer provozieren. Zudem, dass was Sie vielleicht provozierend empfinden, empfinden ganz viele als Befreiung, wer hat denn nun recht?

  6. 51.

    Hätte ich etwas anderes gesagt? Die Interaktion besteht zwischen Kunstschaffenden und Bürgern gerade auch durch solche Rückmeldungen, die von "Diktionen" fernab wie sonstwas sind. (Oder verstehen Sie Kunst nur im Sinne eines Anbieter-bloßen Konsumenten-Verhältnisses?)

  7. 49.

    Der macht ständig Stimmung, wegen angeblicher ,,Pornografie'' in dem Stück. Derweil laufen diese schmutzigen Sachen frei verfügbar für Jugendliche und Kinder im Netz!

  8. 48.

    Es ist noch zu sagen: wenn man heute provozieren will, muss man wohl dicker auftragen. Denn die jüngeren Inszenierungen von Paul Hindemiths Sancta Susanna waren aufgrund der Liberalisierung unserer Demokratien keine Skandale mehr. Hier liegt eine Inszenierung vor, die wohl vor allem gegen das Patriarch in der katholischen Kirche und kirchliche Betulichkeit gerichtet ist. Es gibt viele Fragen in Deutschland in dem Kontext: kann der synodale Weg nur hier eingeschlagen werden, ohne Rom? Dann glaube ich aber sagen zu können, eine nach dem Grundgesetz reformierte einzige Amtskirche in Deutschland, werden viele Bürger gar nicht mehr wollen. Denn dann würde Deutschland nicht atheistisch handeln. Das Grundgesetz ist dabei gar nicht rein atheistisch formuliert, und Deutschland darüber gespalten, wie andere Demokratien. Es kommt auch nicht zu einer Liberalisierung der ganzen Welt; es geht um die Art und die Wahrhaftigkeit unseres Konfliktverhaltens; in Deutschland um Mut zur Reform.

  9. 47.

    Eindeutige Antwort? Ja! Es kann nicht genug Eklektizismus geben - das ist die Freiheit der Kunst.

  10. 46.

    Ach ,,Lincoln'', Sioe können gegen die Kunst wettern, wie Sie wollen, aber Sie haben vergessen, daß die Kunstfreiheit besteht! Und nichts hier ist ,,strafbar''. Unsinn.!

  11. 44.

    "Ich hätte ins Grundgesetz geschrieben. "Deutschland ist ein atheistischer Staat." ... und noch dazu: Kirche und Staat sind strikt voneinander zu trennen.

  12. 43.

    Das ist in der Tat ein Argument, das ist eine Annäherung an die Aufführung, die nicht nur hier trifft, sondern tendenziell nahezu überall. Dass etwas kürzer wird und kleiner wird vom Aufwand her, das ist im Denken nicht vorgesehen. Diesen Aspekt teile ich voll und ganz.

  13. 42.

    Ich habe jede Minute geliebt!

  14. 41.

    Sowas lockt heutzutage noch Leute hinterm Ofen vor?

  15. 40.

    Alles schön und gut und die Kunstfreiheit gilt: aber wenn ich die Oper von Paul Hindemith im Original auf Youtube anhöre, es sind dort mehrere Inszenierungen des Originals von Hindemiths Sancta abrufbar, dann faltet er in unter 30 Minuten ein geniales Werk auf, im Stil der neuen Musik seiner Zeit, empfindsam, dramatisierend, im Grunde perfekt. Nun stellt sich die Frage: Warum muss dass überbordend auf fast 3 Stunden verlängert werden, so überbordend, wie unsere globale Kultur, die im Klimawandel untergehen zu wollen scheint? Ist immer mehr mehr oder doch weniger mehr? Die Frage der angemessenen Inszenierung des Stoffes stellt sich hier lediglich, bei aller Kulturfreiheit. Die Frage der Werktreue im Hinblick auf P. H. auch. Aber das bleibt hier, wenn man nicht da war unklar: was ist die Absicht, im Hinblick auf Hindemith? Hat er noch Relevanz, in dem Kontext? Oder eben nicht mehr? Er kann sich nicht mal im Grab umdrehen, wer kann das schon? Und brauchen wir immer mehr und mehr?

  16. 39.

    "Außerdem sind mir Jurist durchaus die Feinheiten der im Grundrecht auf Meinungsfreiheit enthalten Religionsfreiheit mit positiver und negativer Religionsfreiheit durchaus bekannt!"

    Dann bitte ich Sie, daraus auch die Schlussfolgerungen zu ziehen. Ich habe sie bereits skizziert:
    "Die entscheidende Frage ist, WO so etwas aufgeführt wird" - mithin, ob in der doppeldeutig gemeinten kirchenfernen Volksbühne oder eben, dass diese Aufführung direkt vor einer Kirche aufgeführt würde.

    Theaterstück und Film "Das Leben des Brian", einer ambivalenten Persiflage auf Jesus, kann natürlich auch in sämtlichen Kinos gezeigt werden und wurde es auch. In München, Nürnberg oder Augsburg - um das mal auf Bayern zu beziehen - ist das auch völlig problemlos gelaufen. In Oberammergau, in Dingolfingen oder in einem der zahlreichen Bergdörfer jeweils im Gemeinschaftshaus gezeigt, hielte ich dies für pietätlos.

    Vielleicht könnten wir uns hierauf einigen. ;-

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