Interview | 80. Gedenkmarsch Polen-Brandenburg - "Viele starben auf der Strecke - die anderen überlebten, weil sie zusammenhielten"

Soldaten aus den USA, Großbritannien und Polen laufen ab dem 24. Januar dieselbe Strecke ab, die alliierte Kriegsgefangene 1945 bei minus 20 Grad zurücklegen mussten. Im Interview erklärt der Veranstalter Howard de Lestre, der den Marsch organisiert, die Hintergründe.
Mit dem "Ex Long March" erinnern Teilnehmerinnen und Teilnehmer - darunter Armeeangehörige mehrerer Nationen - an die Evakuierung von mehreren Tausend Kriegsgefangenen, die in den Wintermonaten 1944/45 vom Lager in Sagan (heute: Żagań in Polen) nach Spremberg marschieren mussten. In Sagan befand sich ein großes Kriegsgefangenenlager für Angehörige von US-amerikanischen, britischen, kanadischen und neuseeländischen Luftwaffeneinheiten, Piloten und Flugzeugbesatzungen.
Am diesjährigen "Ex Long March" nehmen Soldaten der US-Armee, der polnischen Armee, Veteranen der Bundeswehr sowie einige Mitglieder der Royal Air Force teil. Darüber hinaus beteiligen sich in diesem Jahr erstmalig auch Familienangehörige damaliger Kriegsgefangener. Zum Abschluss des Marsches soll am 26. Januar in Spremberg ein Gedenkappell stattfinden. Organisiert wird die Gedenkveranstaltung von Howard de Lestre.
rbb: Herr de Lestre, seit wann organisieren Sie den "Gedenkappell zum Langen Marsch"?
Howard de Lestre: Wir machen den Marsch seit 20 Jahren. Ich interessiere mich für diese Geschichte und habe einige der Männer getroffen, die 1945 am sogenannten "Langen Marsch" teilgenommen haben.
Der "Lange Marsch" jährt sich in diesem Jahr zum 80. Mal. Wer wird am Jahrestag teilnehmen?
Also wir haben verschiedene Gruppen. Darunter ist eine große Gruppe von Familienmitgliedern, die aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien, aber auch aus Australien und Neuseeland kommen, um die Schritte ihrer Großeltern oder in einigen Fällen auch ihrer Eltern zurückzuverfolgen. Die militärische Gruppe besteht hauptsächlich aus Soldaten der US-Armee, die in Polen stationiert sind. Und wir haben auch Soldaten der polnischen Armee und einige Veteranen der deutschen Armee, die mit uns von Moskau nach Spremberg marschieren - was das erste Mal ist. Dass sie marschieren, ist eine große Bereicherung. Keiner von ihnen hat diesen Marsch zuvor gemacht.
Familienangehörige damaliger Kriegsgefangener nehmen zum ersten Mal teil. Wie hat sich das entwickelt?
Sie kommen, um zu sehen, wo sich ihre Verwandten - ihr Vater oder Großvater - während des Krieges befanden und wie sie ihre Zeit im Gefangenenlager verbrachten. Sie wollen den Marsch sehen, den ihre Familienmitglieder auf sich nehmen mussten. Und die Strecke physisch ablaufen.
Für die Soldaten dagegen ist es eine Gelegenheit, um an unsere Nato-Partner in Polen und Deutschland zu denken. Es ist wichtig, dass wir zusammenkommen und über unsere gemeinsame Zukunft nachdenken. Für beide Gruppen, sowohl für die historischen als auch für die zukunftsorientierten, ist es also ein sehr wichtiger Marsch.
Welche Rolle spielen gegenwärtige politische Konflikte im Hintergrund des Jahrestags?
Die aktuellen Konflikte in der Welt und insbesondere in der Ukraine sind sehr wichtig für uns, weil wir die Partnerschaften zwischen unseren Nationen und das, wofür wir stehen, in einen Rahmen bringen wollen. Es geht um die Freiheit und die Einheit Deutschlands, Polens, Großbritanniens, Amerikas. Um das Zusammenstehen, weil wir für ein gemeinsames Ziel stehen.
Wir werden also darüber sprechen, was heute in der Welt passiert, und wir werden das in den Kontext dessen stellen, was in der Geschichte passiert ist. Zum Beispiel, wie wichtig die Partnerschaft in der Zukunft ist. Sie untermauert, wofür wir stehen und warum wir diesen Marsch machen.
Wie haben Sie die Familienmitglieder der ehemaligen Kriegsgefangenen ausfindig gemacht?
Die haben mich sozusagen gefunden. Die Familienmitglieder kommen aus vielen verschiedenen Ländern. Wir haben sie zum einen über Veteranenorganisationen kontaktiert und sie zum anderen über soziale Medien informiert, dass wir an den Marsch organisieren und daran teilnehmen werden.
Und die Soldaten?
Sie haben sich freiwillig gemeldet, nachdem wir sie über das Militär angefragt haben.
Die Strecke von Żagań nach Spremberg erstreckt sich über rund 100 Kilometer. Wie sieht sie aus?
Es ist eine sehr lange und anstrengende Route. Und ein sehr schwerer Marsch. Er wird in Polen beginnen, wir werden nach Bad Muskau laufen, dort eine Nacht verbringen und am nächsten Tag zum Endziel nach Spremberg marschieren. In Spremberg werden wir dann an den Originalschauplätzen übernachten, die auch 1945 genutzt wurden.
Was ist der historische Hintergrund des Gedenkmarsches, der von Freitag bis Sonntag stattfinden wird?
Der lange Marsch begann vor 80 Jahren während des Zweiten Weltkriegs im Stalag Luft 3 [Kriegsgefangenenlager speziell für Angehörige gegnerischer Luftwaffen, Anm.d.Red.]. Die dort befindlichen Flieger wurden auf die Straße geschickt und gezwungen Richtung Westen zu marschieren. Zu dem Zeitpunkt lag Sagan [jetzt: Żagań in Polen, Anm.d.Red.] in Deutschland, war Teil von Schlesien, und wurde dann zwangsumgesiedelt.
Der Marsch ging durch verschiedene Dörfer und die Bedingungen wurden immer schlechter. Das Wetter wurde sehr schlecht und der Unterschied zwischen den Wachen und den Kriegsgefangenen schmolz förmlich dahin.
Sie wurden zu einer einzigen Gruppe, und als sie nach Bad Muskau kamen, waren die Bedingungen wirklich entsetzlich. Tausende von deutschen Zivilisten wurden aus Schlesien nach Westen evakuiert, und es kamen Menschen aus den verschiedenen Konzentrationslagern. Deswegen gab es in Bad Muskau Tausende von Menschen, die versuchten, der vorrückenden Roten Armee zu entkommen und auszuweichen, und sie marschierten zwischen Bad Muskau und Spremberg nach Westen.
Wie waren die Bedingungen des Marsches 1945?
Die Menschen konnten die vorrückende Armee in der Ferne hören. Ab einem Punkt waren es minus 20 Grad und es schneite. Viele Menschen starben auf der Strecke und die anderen überlebten, weil sie zusammenhielten. Schließlich landeten sie in Spremberg und wurden auf Züge in Viehwaggons verladen, die sie nach Norddeutschland brachten. Ein Teil der Gruppe kam nach Norddeutschland und ein Teil nach Süddeutschland.
Viele der Menschen entlang der Route waren sogar freundlich und halfen ihnen, indem sie ihnen heißes Wasser und Brot gaben, um sie am Leben zu erhalten. Das Bild, das sich die Leute von dem Marsch vorstellen, entspricht nicht wirklich dem, dass sie nur Feindseligkeit ausgesetzt waren.
Ich meine, das war damals alles Deutschland. Es war nicht Polen, es war ein Teil von Deutschland, und ein paar Leute waren feindselig, aber die Mehrheit der Leute, besonders die alten Frauen, die Söhne oder was auch immer hatten, die im Krieg kämpften, gaben ihnen Essen oder heißes Wasser, um zu helfen.
Die Nazis erzählten der Welt, diese Leute [aus dem Kriegsgefangenenlager, Anm.d.Red.] seien Terrorflieger, aber sie waren einfache Piloten. Viele Überlebende erzählten aber auch von der Freundlichkeit, die sie von der deutschen Bevölkerung in den kleinen Dörfern entlang der Route erfahren haben. Ich glaube, alle hatten einfach genug, sie hatten die Nase voll und wollten einfach nur das Ende des Krieges. Aber natürlich hatten sie auch Angst vor den Russen.
Was ist Ihnen von den vergangenen Gedenkveranstaltungen besonders im Gedächtnis geblieben?
In den letzten Jahren kamen die Bürger in Spremberg oft, um uns am Ende der Route in Empfang zu nehmen. Vor zehn Jahren waren wir zu einem Jubiläum da und hatten einige Probleme in Spremberg. Ich weiß nicht, ob Sie sich an die NPD erinnern - sie kamen mit Transparenten und allem über Dresden. Wir haben ihnen Verpflegung angeboten und mit ihnen gesprochen. Ich habe dabei einen Typen getroffen, sein Name war Ingo. Er war ungefähr so alt wie ich und wütend über Deutschland. Ich habe ihm gesagt, dass wir Freunde sind und die Vergangenheit nicht verändern können, aber dafür die Zukunft. Am Ende ließen sie die Fahnen fallen.
Wenn diese Leute auftauchen, dann kommen sie eben. Wir versuchen mit ihnen zu reden. Ich war in Baltimore und alle meine deutschen Freunde rieten mir davon ab, in diese Gegend zu kommen. Sie sagten, es sei voll mit AfD. Aber die Gastfreundschaft, die ich im Osten erfahren habe, war wirklich erstaunlich, die Leute sind wirklich freundlich.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Isabelle Schilka, Antenne Brandenburg.
Sendung: