Der US-amerikanische Regisseur und Produzent Martin Scorsese wird auf der Berlinale mit dem Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk geehrt. Der 81-Jährige erhält die Auszeichnung im Berlinale-Palast. Anschließend wird dort sein Film "The Departed" gezeigt. "Seine Filme haben uns als Zuschauer*innen und Menschen begleitet, seine Figuren haben in uns gelebt und sind in uns gewachsen", heißt es seitens der Berlinale.

Lange Zeit musste man sich fragen, was der Oscar eigentlich wert ist, wenn ein großer Regisseur wie Martin Scorsese zwar vielfach für ihn nominiert ist, ihn jedoch nicht bekommt. "Taxi Driver" (1976) mit seiner verstörenden Kraft - das kann man vielleicht noch verstehen. Aber "Wie ein wilder Stier", "Good Fellas", "Casino", "Die Farbe des Geldes", "King of Comedy"? Bis er dann 2007 endlich, immerhin, wenigstens den Oscar für die beste Regie bekam, für "The Departed". Sein vielschichtiges, vielstimmiges Meisterstück erzählt von Gewalt und Verrat, mit Leonardo DiCaprio in der nervenzerfetzenden, herzzerreißenden Darstellung eines Undercover-Cops im Sumpf von Waffengeschäften, Drogenhandel und Korruption.

Das Zersetzende, das Getriebene, das Tragische, das es in allen Filmen von Scorsese gibt - hier ist es in 151 Minuten auf seine verstörende Essenz verdichtet, mit einer Fülle grandioser Schauspieler:innen wie Jack Nicholson, Leonardo DiCaprio, Matt Damon, Mark Wahlberg, Ray Winston, Martin Sheen oder Vera Farmigia. "The Departed" ist ein Film, in dem jeder jeden verrät, im Verbrechen, wie in der Liebe.

Da ist also dieser kränkliche Junge, der häufig zuhause hockt, in den Fünfzigerjahren in Little Italy, New York. Statt auf Straßen und Sportplätzen zu toben, verfolgt er die kleinen Dramen, die sich vor seinem Fenster abspielen, flüchtet sich in die Geschichten, die sich auf dem Fernsehmonitor entfalten und klettert durch die Räume seiner eigenen Fantasie.

Aus den Versatzstücken der Wirklichkeit schuf Scorsese im Laufe der Jahre seine ganz eigene Welt. Vielstimmig fügen sich all die Einflüsse zu einem komplexen Werk, in das die Erfahrungen in der sizilianischen Großfamilie, die Restriktionen der katholischen Religion, das Vietnam-Trauma, die Rituale der Mafiagangster einfließen. Aber auch die Glücksmomente des Kinos in "Hugo Cabret", die Vibrationen der Musik im Rolling Stones-Konzertfilm "Shine a Light" und nicht zu vergessen die großen Fernsehserien wie "Boardwalk Empire".

Sein Werk erwächst aus den Spannungsverhältnissen von Europa und Amerika, Dokumentation und Fiktion, Tradition und Neuerfindung, Restriktion und Freiheit. Entscheidet mitgeprägt wurde es durch regelmäßige Kollaborateure wie die Schauspieler Robert De Niro und Leonardo Di Caprio, die Cutterin Thelma Schoonmaker, den deutschen Kameramann Michael Ballhaus oder die Kostümdesignerin Sandy Powell.

Bei einem Weihnachtsessen im winzigem New Yorker Apartment des Kritikers Jay Cocks, bringt Brian De Palma diesen Schauspieler mit, von dem er seit langem schwärmt: Robert De Niro. Scorsese erinnert sich, dass sie sich schon kennen, seit sie 16 sind: "Wir sind damals durch die Straßen gezogen, alles italoamerikanisches Gebiet, nicht ganz dieselbe Clique, aber man wusste, wer die anderen waren. Bob kannte all die Typen aus dem alten Viertel, auf denen meine ersten Filmfiguren basierten."

Etwas später hat er De Niro dann angerufen, er habe Lust, das mal authentisch zu zeigen: die Straßenecken, die Hinterhöfe, die Hausflure, die Kleingangster, die nichts zustande bringen, die es nicht in sich haben, je was Größeres zu stemmen. Daraus entstand ein Jahr später Scorseses "Mean Streets" (1973). "Das Vorbild für Bobs Figur, Johnny Boy, kannten wir beide, da brauchten wir nicht groß drüber zu reden."

Man spürt das Herzblut, das von den ersten Schwarzweißfilmen aus der großen Zeit des New Hollywood bis heute durch Scorseses Filme pulsiert. Immer erzählen sie auch seine eigene Geschichte, ausgehend vom Zentrum in den "Mean Streets" von Little Italy, in immer weiter gezogenen Kreisen. Schon im ersten Storyboard, in dem er als Elfjähriger in Cinemascope den Sandalenfilm "The Eternal City" imaginierte (auf dem Papier prominent besetzt mit Marlon Brando, Virginia Mayo und Alec Guinness) fällt bei einer der zentralen Figuren der schwarze Vollbart auf, den der junge Regisseur ein paar Jahre später tatsächlich selber tragen wird. Bis heute sind seine Helden genauso beseelt und besessen, getrieben und zerrissen wie er.

Nachdem Scorsese zuletzt mit "The Irish Man" einen (selbst-)kritisch unheroischen Blick auf die verheerende Gewalttätigkeit des organisierten Verbrechens gerichtet hat, von dem so viele seiner Filme erzählten, und davon was sie mit ihren Protagonisten anrichtet, folgte in "Killers of the Flowermoon", der Verfilmung des gleichnamige Bestseller-Sachbuchs ein ebenso kritischer Blick auf den blutgetränkten Gründungsmythos der Vereinigten Staaten: Wie üblich im Umgang der weißen Siedler mit den amerikanischen Ureinwohnern wurde auch dem Stamm der Osage ein scheinbar wertloses Stück Land in Oklahoma zugeteilt. Als dort enorme Mengen an Öl gefunden wurden, wurden sie mit einem Schlag schwerreich, besaßen Häuser, Autos, Bedienstete. Ging es in der Sachbuchvorlage vor allem um die FBI-Ermittlung über eine Serie von Morden an den Ureinwohnern im Osage County, verlagert Scorsese die Perspektive auf sie, verdichtet in der Figur der von Lily Gladstone majestätisch und warm gespielten Molly.

Nach zehn Filmen mit seiner männlichen Muse Robert DeNiro und sechs mit Leonardo DiCaprio, treten die beiden Superstars des US-amerikanischen Kinos in "Killers of the Flower Moon" zum ersten Mal zusammen in einem Film des Meisters auf. Den Rinderkönig, der mit mafiösen Mitteln für die Umverteilung des Reichtums kämpft, spielt DeNiro mit einer Mischung aus jovialer Gravitas und unterschwelliger Gefährlichkeit, die sich aus den vielen Gangsterrollen speist, die er vor allem für Martin Scorsese gespielt hat. So wird aus dem Serienkiller-Krimi ein episches Drama, das sich auf 207 Minuten mit großer Genauigkeit auf die Seite der Ureinwohner schlägt, ihre Kultur feiert, ihre Lage ernst nimmt. Im März wird es dafür hoffentlich eine ganze Reihe Oscars geben, zehn Mal ist der Film nominiert.

Doch zuvor verleiht die Berlinale Martin Scorsese, seit Jahrzehnten ein regelmäßiger Gast und Unterstützer des Festivals, den Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk. Übrigens: Scorsese gehörte zu den Filmschaffenden, die im September letzten Jahres gegen den Leitungswechsel bei der Berlinale protestiert haben. Nach der Preisgala am Dienstagabend wird "Departed" gezeigt. Die Gäste des Hommage-Abends erwartet eine tolle Erfahrung, egal ob sie diesen Film noch nie, oder schon oft gesehen haben.

Der 81-jährige Meisterregisseur hat unterdessen schon wieder weitere Projekte in Arbeit - unter anderem Filme über Roosevelt und Jesus.

Sendung: rbb24 Inforadio, 20.02.2024, 13:35 Uhr