Corona und die Toten - Warum man Zahlen zur Sterblichkeit mit Vorsicht lesen sollte

Mi 18.11.20 | 07:18 Uhr
Archivbild: Eine Pflegerin hält am 03.06.2009 die Hand einer todkranken Patientin. (Quelle: dpa/Norbert Försterling)
Bild: dpa/Norbert Försterling

Über die Corona-Sterblichkeit kursieren viele Behauptungen in Politik und Netz. rbb|24 erklärt, wieso auch niedrige Todeszahlen problematisch sein können und was falsche und wahre (Un-)Gewissheiten sind. Von Haluka Maier-Borst

Nun ist die zweite Phase der Pandemie auch an den allerletzten Orten angekommen. In den Pathologien und auf den Friedhöfen. Die Zahl der Corona-Toten in Berlin und Brandenburg steigt wieder – allerdings auf niedrigem Niveau. 22 Tote an einem Tag waren bisher der Höchststand in Berlin für die zweite Phase der Epidemie, acht in Brandenburg. Das klingt nach sehr wenig und doch ist das eine beunruhigende Entwicklung. Und zwar aus zwei Gründen, die auch alle anderen Zahlen der Pandemie beeinflussen: Exponentielles Wachstum und Zeitverzug.

Um vielleicht nicht gleich mit morbiden Zahlen anzufangen, ein Vergleich. Wenn auf einem Teich sich die Zahl der Seerosen jede Woche verdoppelt und nach zehn Wochen der Teich zu einem Viertel bedeckt ist, wie lange braucht es noch, bis der Teich ganz bedeckt ist?

Zwei Wochen. Was langsam angefangen hat, geht plötzlich rasend schnell. So funktioniert exponentielles Wachstum und das ist es, was auch die Todeszahlen antreibt.

Wie schnell aus ein paar Toten ein paar hundert werden könnten

Man sieht, dass sich bislang die Zahl der Toten jede Woche im Schnitt ungefähr verdoppelt hat. Wenn man also nichts gemacht hätte, wäre wohl grob vereinfacht gesagt aus acht Corona-Toten pro Tag schnell ein Schnitt von 16, 32, 64 und letztlich über 100 pro Tag in Berlin geworden. Und das nur innerhalb etwas mehr als einem Monat. Nur zum Vergleich: In Berlin starben 2019 im Schnitt etwa 100 Menschen pro Tag.

Außerdem beachtet diese Rechnung eine entscheidende Problematik nicht: die Kapazitäten der Krankenhäuser. Noch sterben Covid-19-Patient/innen, obwohl sie die bestmögliche Behandlung auf der Intensivstation bekommen. Wenn die Intensivstationen an und über ihre Grenzen kommen, wäre das anders.

Bis die Maßnahmen sich auch bei den Totenzahlen zeigen, wird es wohl dauern

Neben dem exponentiellen Wachstum gibt es aber noch einen zweiten Faktor, der dazu führt, dass das aktuelle Handeln übertrieben erscheinen mag: der Zeitverzug. Bis jemand sich angesteckt hat und Symptome zeigt, braucht es im Mittel vier bis fünf Tage [cdc.gov]. Bis er oder sie dann getestet wurde und ein Ergebnis hat, kann es noch mal einige Tage dauern. Sprich, die Fallzahlen haben einen Verzug zum aktuellen Geschehen von mindestens einer Woche. Bei den Sterbezahlen ist dieser Zeitverzug ungleich größer. Je nach Studie variiert die errechnete Zeit zwischen Ansteckung und Tod, liegt aber in etwa zwischen zwei und vier Wochen [sciencedirect.com]. Grob kann man diese Dynamik auch in Berlin und Brandenburg sehen.

Der Höchststand der gemeldeten Neuinfektionen im Frühjahr war laut 7-Tage-Schnitt am 29. März erreicht, in Brandenburg am 4. April. Der Höhepunkt der Totenzahlen folgte für Berlin laut 7-Tage-Schnitt am 17. April, in Brandenburg am 28. April. Rechnet man Meldeverzüge mit ein, kommt man also ebenfalls auf ungefähr drei Wochen zwischen Ansteckung und Tod. Entsprechend könnte es also auch derzeit so sein, dass wir vielleicht erst Ende des Monats bei den Totenzahlen einen Effekt des Lockdown-Light sehen – wenn er denn genügend wirkt.

Wie hoch die Sterblichkeit wirklich ist

Dass die Politik reagiert hat, und zwar weit vor mehreren Dutzend Toten pro Tag in Berlin und Brandenburg, macht also Sinn. Dennoch halten sich hartnäckig einige Behauptungen, die die Sterblichkeit von Corona niedriger einschätzen – auch unter unseren Artikeln oder in Landtagsdebatten.

Einige davon hat der AfD-Fraktionschef Hans-Christoph Berndt (AfD) im Brandenburger Landtag geäußert. Er verwies darauf, dass laut einer Auswertung des Mediziners John Ioannidis von der Universität Stanford [who.int] für die Unter-70-Jährigen die Infektionssterblichkeit im Mittel bei gerade mal 0,05 % liege. Entsprechend sei Corona nicht wie die Spanische Grippe. Außerdem habe Deutschland und auch Brandenburg bisher keine Übersterblichkeit verzeichnet. Doch an dieser Argumentation sind gleich mehrere Punkte problematisch.

Zum einen ist die aktuelle Politik gerade darauf ausgelegt, dass es keine Übersterblichkeit gibt. Würde man erst reagieren, wenn diese eintritt, hätte man eben wegen des Zeitverzugs und des exponentiellen Wachstums ein Problem. Und dass Corona eine Übersterblichkeit auch in Industrienationen verursachen kann, zeigen unstrittig weltweite Vergleiche [ft.com].

Zum anderen ist die zitierte Zahl für die Infektionssterblichkeit irreführend – selbst wenn sie stimmen sollte. Die angegebene Zahl zielt nämlich nur auf die, die das geringste Risiko für einen schweren Verlauf haben: die Jüngeren. Rund eine Millionen Berliner/innen und Brandenburger/innen sind aber jenseits der 70 und tragen also ein deutlich höheres Risiko.

Hinzukommt: Die meisten Studien errechnen eine wesentlich höhere Sterblichkeit und haben teils ein rigoroseres Begutachtungsverfahren hinter sich als Ioannidis' Berechnung. So zeigten Forscher/innen in einer Zusammenfassung, dass über 24 Studien hinweg im Mittel die Sterblichkeit bei 0,68% lag [sciencedirect.com]. Allerdings gab es dabei große Schwankungen in den Ergebnissen der Studien.

Eine mögliche Begründung dafür lieferte einer der beiden Autoren in einer weiteren Studie [medrxiv.org], die allerdings noch nicht begutachtet ist. Gideon Meyerowitz-Katz und seine Kollegen sagen, dass wohl 90 Prozent der Unterschiede in der Sterblichkeit sich mit der unterschiedlichen Altersstruktur in der Bevölkerung erklären lassen. Dass Risiko an Corona zu versterben, steige mit zunehmendem Alter exponentiell.

Ähnliches fand auch eine Studie des Imperial College in London [imperial.ac.uk] heraus, die feststellte, dass Länder mit hohem Einkommen und einer älteren Bevölkerung eine Sterblichkeit von rund einem Prozent aufwiesen. Länder mit niedrigen Einkommen und einer jüngeren Bevölkerung hingegen hatten eine Sterblichkeit von rund einem Viertel Prozent. Im Schnitt würde sich alle acht Lebensjahre das Risiko an Corona zu sterben verdoppeln.

Berndt hat also nur insofern Recht, als dass die Spanische Grippe vor allem die Jüngeren dahinraffte. Der durchschnittliche Tote damals war 27,2 Jahre alt [lancet.com], bei Corona wird dieses Alter wohl deutlich höher liegen. Trotzdem ist die Pandemie, was die Zahl der Toten angeht, sehr wohl vergleichbar.

Wieso der ewige Grippe-Vergleich falsch ist

Entsprechend ist auch der immer wieder vorgebrachte Vergleich zur saisonalen Grippe irreführend. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht von einer Infektionssterblichkeit bei der Grippe von deutlich weniger als 0,1% aus [who.int]. In den USA soll die Influenza vergangenes Jahr 0,05% der Infizierten getötet haben [medrxiv.org]. So oder so: die Sterblichkeit durch Corona ist also um den Faktor 2,5 bis 20 Mal höher als bei der Grippe.

Außerdem breitet sich Corona schneller aus. Während ein Infizierter bei Sars-Cov-2 ungefähr 3,4 neue Personen ansteckt, wenn es gar keine Maßnahmen gibt, so liegt der Wert für die saisonale Grippe bei etwa 1,3 [biomedcentral.org]. Selbst wenn also Sars-Cov-2 nur ähnlich gefährlich wäre wie die Grippe, würde es wohl trotzdem größere Probleme geben. Durch die höhere Ansteckungsrate würden die Krankenhäuser einen heftigeren, wenngleich kürzeren Moment der Belastung durchleben. Mehr Schwererkrankte würden gleichzeitig um Plätze auf den Intensivstationen konkurrieren und wohl für eine Überlastung sorgen.

Wieso man Leute nicht umsonst vor Corona rettet

Ähnlich zum Grippe-Vergleich gibt es noch zwei weitere Behauptungen, die immer wieder im Kontext der Sterbefälle durch Corona vorgebracht werden. Einmal, dass die Gestorbenen sowieso bald an etwas anderem gestorben wären. Und zum anderen, dass viele ja gar nicht an Corona, sondern mit Corona gestorben seien. Auch für diese beiden Behauptungen gibt es wenig Belege und andersrum Untersuchungen, die eher auf das Gegenteil hindeuten.

So wies im Mai der NDR in einer Datenrecherche darauf hin, dass die Corona-Toten im Schnitt neun Jahre noch zu Leben gehabt hätten [tagesschau.de] und es vergleichbare Studien mit ähnlichen Ergebnissen hierzu gibt. Ferner hat in Deutschland der Bundesverband Deutscher Pathologen [pathologie.de] in einer Untersuchung herausgefunden, dass bei 86 Prozent der Todesfälle mit Covid-19-Diagnose dies auch die Todesursache war.

Was unklar bleibt und was klar ist

Am Ende bleiben also Ungewissheiten. Wie tödlich genau das Virus ist, hängt wohl vom Alter und von der Situation auf den Intensivstationen ab – allerletzte Gewissheit gibt es hier aber nicht. Und wie gut man durch die zweite Phase der Pandemie gekommen ist, werden wir auch erst dann wissen, wenn die Neuinfektionszahlen schon lange gesunken sind.

Was sich aber definitiv sagen lässt, ist, dass Corona tödlicher als die Grippe ist und vor allem die Älteren bedroht. Und dass man Tote nur verhindern kann, wenn man früh reagiert – lange bevor die Zahlen der Intensivpatienten und Toten alarmierend hoch sind.

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