#Wiegehtesuns | Ehrenamtliche - "Irgendjemand muss doch hinsehen"

Sa 26.06.21 | 17:13 Uhr
#Wiegehtesuns? - Rosemarie Franke vor der Bahnhofsmission Ostbahnhof (Quelle: Josefine Janert)
Audio: rbbKultur | 20.06.2021 | Josefine Janert | Bild: Josefine Janert

Rund 150 Menschen suchen täglich die Bahnhofsmission am Berliner Ostbahnhof auf. Seit 18 Jahren arbeitet Rosemarie Franke dort ehrenamtlich. Auch hier hat Corona seine Spuren hinterlassen, sagt sie. Ein Gesprächsprotokoll.

Das Coronavirus stellt unser Leben auf den Kopf. In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, wie ihr Alltag gerade aussieht – persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.

Rosemarie Franke ist 64 Jahre alt. Seit rund 18 Jahren arbeitet sie als ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Bahnhofsmission am Ostbahnhof. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Die Zahl der Gäste, die zu uns in die Bahnhofsmission am Ostbahnhof kommen, ist in etwa so groß wie vor der Pandemie: 150 Menschen pro Tag, an Wochenenden bis zu 300. Doch ein paar Stammkunden sind weggeblieben, und Neue sind hinzugekommen.

Was sie hertreibt, ob sie wegen Corona arbeitslos geworden sind, wissen wir oft nicht. Denn wir haben viel weniger Möglichkeiten, uns mit ihnen zu unterhalten, als vorher. Wir – das sind die zwei ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und die hauptamtliche Mitarbeiterin, die jeweils zusammen eine Schicht machen.

Insgesamt arbeiten bei der Bahnhofsmission am Ostbahnhof vier Hauptamtliche und 30 Ehrenamtliche.

Früher konnten zwischen 8:30 und 12 Uhr und zwischen 13:30 und 16:30 Uhr jeweils acht Gäste unsere Räume betreten. Sie konnten kostenlos die Toilette benutzen, für einen Euro duschen und 30 Minuten hier sitzen, essen und trinken. Das geht jetzt wegen der Hygieneregeln nicht.

Wir bauen morgens vor unserer Tür einen Tisch auf und verteilen Stullenpakete, die Mitarbeitende der Berliner Stadtmission vorbereitet haben. Wenn Zeit ist, geht eine von und raus und spricht mit Menschen, die sich über soziale Angebote in der Stadt beraten lassen möchten. Doch das geschieht viel seltener als früher.

Da wir ein niedrigschwelliges Angebot sein wollen, würden wir von uns aus nie jemandem Fragen stellen. Doch viele fangen von sich aus an zu erzählen – wo sie die Nacht verbracht haben, was sie früher gearbeitet haben, wie es ihnen geht. In den 18 Jahren, in denen ich als Ehrenamtliche bei der Bahnhofsmission arbeite, habe ich schon allerhand Geschichten gehört.

Um die Jahrtausendwende spielte das Ost-West-Thema noch eine große Rolle. Es gab einen Mann, der sagte, wenn er unsere Räume betrat, jedes Mal anklagend "Die BRD". Wenn jemand fragte "Na und?", begann er einen langen Monolog darüber, wie schön die DDR gewesen sei.

Ich erinnere mich an eine Alkoholikerin, die eines Tages grün und blau geschlagen bei uns ankam. Sie sagte, ihre Nachbarn hätten sie verprügelt, und sie habe das bei der Polizei angezeigt. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Viele Gäste sind psychisch krank, alkohol- und drogensüchtig. Sie phantasieren sich Geschichten zusammen, manches ist aber auch real.

Einige haben jetzt ganz große Angst vor dem Coronavirus. Andere lehnen die Impfung kategorisch ab. Das Verhältnis von Befürworter zu Gegnern der Impfung ist so wie beim Rest der Bevölkerung, würde ich sagen.

Meiner Kollegin ist mir aufgefallen, dass einige Gäste jetzt noch mehr riechen als vor der Pandemie. Das liegt einerseits an der Hitze. Andererseits können viele soziale Einrichtungen nicht mehr so viel Leute zum Duschen reinlassen.

Manche Menschen leben mit offenen Wunden auf der Straße. Ich habe schon Leute erlebt, die wegen solcher Verletzungen ein Verwesungsgeruch umgab.

Warum ich die Arbeit in der Bahnhofmission mache? Ich würde sagen: Ich bin privilegiert.

Mit meinem Mann wohne ich in einem schönen Haus mit Garten. Ich habe drei erwachsene Kinder, zwei Enkel und einen großen Freundeskreis. Ich musiziere in einem Senioren-Orchester, fühle mich in meiner evangelischen Gemeinde aufgehoben. Mir geht es gut. Deshalb will ich etwas für andere Leute tun, aus christlicher Nächstenliebe. Viele Menschen gehen ja achtlos an den Bedürftigen vorbei. Sie schauen lieber weg. Irgendjemand muss doch hinsehen! Und das bin ich, ich mache das gern.

Gesprächsprotokoll: Josefine Janert

Sendung: rbbKultur, 20.06.2021, 12:10 Uhr

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