Verwirrende RKI-Werte - Fallzahlen runter, Inzidenz hoch – wie kann das sein?
Kuriose Zahlenkombination: Trotz sinkender Fallzahlen steigt in Berlin die Inzidenz. Grund dafür ist wohl ein kleiner Unterschied bei der Berechnung. Und wenn es unglücklich läuft, könnte es häufiger zu diesem Auf-und-Ab kommen. Von Haluka Maier-Borst
Die Hoffnung über das Wochenende war groß. Noch ein paar Tage unter einer Inzidenz von 100 Corona-Fällen pro 100.000 pro Woche und es wäre wieder mehr möglich. Mehr Kontakte bei Treffen im Freien, Shoppen ohne Termine und offene Museen. Doch diese Hoffnung scheint schon vorerst wieder passé zu sein. In Berlin stieg die Inzidenz über 100. Und das trotz sinkender Fallzahl. Wie kann das sein? Eine kurze Erklärung, Schritt für Schritt.
Wann lockert sich die Notbremse und wann greift sie?
Die Regelung der Notbremse wirkt auf den ersten Blick ein wenig verwirrend.
-Damit sie sich lockert: Es muss an fünf Werktagen infolge (Samstag zählt auch dazu) die Inzidenz unter 100 liegen. Sonntage fallen aus der Zählung heraus und unterbrechen die Serie nicht.
-Damit sie greift: Es muss an drei Tagen (egal ob Werktag oder Sonn- bzw. Feiertag) infolge die Inzidenz über 100 liegen.
Wieso wird aber beim Lockern nur auf Werktage geschaut, beim Eingreifen aber nicht? Das erklärt sich vor allem anhand des Meldewesens. Am Wochenende, insbesondere an Sonntagen sind Gesundheitsämter weniger besetzt. Infolgedessen gibt es weniger Meldungen. Wenn also Sonntage reinzählen würden, bestünde die größere Gefahr, dass man lockert, obwohl die gesunkene Zahl nur eine Folge von Nicht-Meldungen ist.
Andersrum wenn aber selbst an einem Sonntag, an dem normalerweise die Zahlen niedriger sein sollten, die Inzidenz über 100 schießt, dann ist das ein besonderes Warnsignal und sollte mitbeachtet werden.
Weil aber zwischen Berlin und Brandenburg teilweise sich unterscheidet, was ein Feiertag ist und was nicht, haben wir uns bei rbb|24 entschieden, Ihnen nur zu zeigen, wie die Inzidenz an den letzten 7-Tagen aussah.
Wie kann die Inzidenz steigen, wenn die Zahl der Fälle sinkt?
Die Inzidenz errechnet sich als die Zahl der neuen Fälle innerhalb der letzten Tage geteilt durch die Bevölkerung. Folglich würde man erwarten, dass die Inzidenz und die Zahl der Fälle sich parallel zueinander entwickeln. Tun sie aber nicht.
Der Grund dafür ist, dass für die neuen Fälle und die Inzidenz ein unterschiedliches Datum relevant ist.
-Für die Zahl der neuen Fälle, ist das Berichtsdatum relevant. Sprich wenn die Landesgesundheitsbehörde, also in Berlin das LaGeSo, gestern von den Fällen erfahren hat, werden sie heute neu aufgeführt.
Allerdings heißt das nicht, dass diese Fälle alle auch gestern diagnostiziert wurden. Je nach dem wie ein Fall gemeldet wird, kann es einige Tage dauern, bis ein gemeldeter Fall auch im Bericht auftaucht. Zum Beispiel, wenn ein Fall an einem Freitagabend in einer kleinen Praxis diagnostiziert wird, aber erst am Montag dem LaGeSo berichtet wird. Und das ist für die Inzidenz relevant.
-Für die Inzidenz gilt nämlich, dass dort alle Fälle reinzählen, deren Meldedatum innerhalb der letzten 7 Tage lag.
Das würde in unserem Beispiel dazu führen, dass der Fall aus der kleinen Praxis im 7-Tage-Vergleich der berichteten Fälle bis zum Montag nächster Woche hineinzählt. Er würde aber aus der 7-Tage-Inzidenz schon am Freitag herausfallen.
Auf Nachfrage von rbb|24 bestätigt das Robert-Koch-Institut, dass genau dieser Unterschied dazu führt, dass in Berlin die Inzidenz steigt, während die Fallzahl sinkt bzw. wieso bundesweit die Zahl der berichteten Fälle sinkt, aber die Inzidenz stagniert.
Kann es sein, dass es nun öfter zu solchen Auf-und-Abs kommt?
Ja, das könnte leider so sein. Denn der Mechanismus der Notbremse ist ja, dass wieder mehr möglich ist, sobald der Wert eben 5 Werktage in Folge unter 100 liegt. Diese Öffnungen erhöhen aber natürlich die Kontakte und damit wohl auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich Leute anstecken. Hinzu kommt, dass natürlich beim Unterschreiten dieser viel besprochenen Grenze viele wohl auch grundsätzlich das Risiko geringer einschätzen und auch mehr den Spielraum der Regeln ausschöpfen.
Es gibt ältere Forschungsarbeiten, die genau dieses Phänomen beschreiben. So sprach schon 2011 eine Arbeit vom adaptivem Verhalten von Menschen in Epidemien [pnas.com], das dazu führt, dass in der Regel eine Epidemie nicht vollkommen eskaliert. Gleichzeitig führt es aktuell im schlechtesten Fall für eine Art "Auf und Ab" der Inzidenzwerte und damit ein "Auf und Zu" verschiedener Bereiche des öffentlichen Lebens. Dass es dann noch Unterschiede zwischen Trends bei den Fallzahlen und Inzidenzen gibt, könnte zusätzlich vewirrend sein.
Michael Meyer-Hermann, epidemiologischer Modellierer am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, sprach im ZDF davon, dass im schlechtesten Fall zu einem zermürbenden Schwanken rund um die 100 kommen könnte.
Er schlug darum vor, eher auf den Trend zu schauen. Nur wenn sich von Woche zu Woche die Fallzahlen um 20 Prozent reduzieren, sollte man die Bremse lockern oder gelockert lassen. Damit gäbe es einerseits mehr Planungssicherheit, andererseits würde man damit auch in einen niedrigen Inzidenz-Bereich kommen. Und das wiederum würde bedeuten, dass man weniger Tote und Schwererkrankte hätte und die Gesundheitsämter besser bei der Kontaktnachverfolgung helfen können.
Könnten die Impfungen dieses Auf und Ab nicht abfedern?
Ja, auch darauf haben Modellierer hingewiesen. Schon im März erklärte Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen, dass wenn erst einmal ungefähr 30 Prozent der Bevölkerung geimpft ist, die Lage vergleichbar zum Sommer vergangenen Jahres wäre [twitter.com].
Wenn es also gut läuft, wird es mit dem Fortschreiten der Impfungen immer schwieriger, die 100 wieder zu reißen. Wenn es aber schlecht läuft, könnte genau das auch bei den Menschen zu einem zunehmend riskanteren Verhalten führen, das genau diesen positiven Effekt wieder zunichte macht.
Sendung: Abendschau, 10.05.2021, 19:30 Uhr