Corona-Hotspot Neukölln - "Soziale Ungleichheit wird durch die Pandemie besonders sichtbar"

Do 19.11.20 | 08:23 Uhr | Von Dena Kelishadi
Hochhäuser in der Gropiusstadt in Berlin-Neukölln (Quelle: imago images/Schöning)
Audio: rbbKultur | 14.11.2020 | Dena Kelishadi | Bild: imago images/Schöning

Berlin-Neukölln zählt zu einem der Corona-Hotspots. Die Menschen hier stellt die Corona-Pandemie vor viele Fragen. Oft sind sie mit der Situation überfordert, auch wegen ihrer Wohnsituation. Spurensuche in einem Bezirk im Ausnahmezustand. Von Dena Kelishadi

Gülhan Helvaci-Ballikaya sitzt am Schreibtisch in der Beratungsstelle des Türkischen Frauenvereins Berlin. Hier berät sie Einwanderinnen im persönlichen Gespräch. Aber ob sie das eigentlich noch darf, da ist sie sich gar nicht sicher. Ihr Sohn ist in Quarantäne, er ist einer von 1.600 Schülerinnen und Schülern, die sich laut Neuköllner Bezirksamt derzeit isolieren müssen.

Weil es in seiner Klasse einen Infektionsfall gab, soll ihr Sohn nun zwei Wochen zuhause bleiben. Gülhan Helvaci-Ballikaya sagt, sie wisse nicht, ob das nun auch für sie gilt. Sie wolle niemanden gefährden und ist verunsichert. Eigentlich ist es ihr Job, Antworten zu geben. Aber gerade hat sie nur Fragen. So wie viele hier im Bezirk.

Gülhan Helvaci-Ballikaya (Quelle: rbb/Dena Kelishadi)
Gülhan Helvaci-Ballikaya berät Einwanderinnen in Neukölln | Bild: rbb/Dena Kelishadi

Überforderung und viele Fragen

Die Corona-Pandemie stellt Menschen in ohnehin schwierigen Lebenslagen vor viele Fragen. Bin ich sicher vor einer Covid-19-Erkrankung? Was ist zu tun? Was zu unterlassen? Gülhan Helvaci-Ballikaya erzählt, dass die Frauen, die zu ihr in die Beratung kommen, oft verwirrt und überfordert mit der Pandemie seien, auch wegen ihrer Wohnsituation.

Soziale Ungleichheit besonders sichtbar in Neukölln

Nur wenige Kilometer vom Türkischen Frauenverein Berlin entfernt lebt und arbeitet Emilia Roig derzeit im Homeoffice. Die Leiterin der Organisation "Center for Intersectional Justice", sagt, die Pandemie habe bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten verschärft. "Die Corona-Bestimmungen sind in großen Wohnungen einfacher einzuhalten. Neukölln ist ein dicht besiedelter Bezirk mit einerseits vielen großen Altbauhäusern mit wenigen Menschen und andererseits kleinen Hinterhofwohnungen und Sozialwohnungen mit vielen Menschen. Diese soziale Ungleichheit wird durch die Pandemie besonders sichtbar", sagt Emilia Roig.

Epidemiologe sieht erhöhtes Infektionsrisiko bei Migranten

Statistisch leben Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund im Schnitt häufiger in Ballungsräumen. Zudem sind sie oft in kleineren Wohnungen zuhause als die alteingesessene Bevölkerung.

Der Epidemiologe und Mediziner Wolfram Herrmann erforscht an der Charité die medizinische Versorgung in Berlin. Er sagt: "Umso dichter und enger man wohnt, umso höher ist das Risiko sich mit Sars-CoV-2 anzustecken." Die Familien von Einwanderern seien durchschnittlich größer und kinderreicher, zum Teil leben mehrere Generationen zusammen. Das Coronavirus treffe sozial schlechter gestellte Menschen generell härter - und darunter seien vermehrt Migranten.

Infektionsgeschehen und Ethnie getrennt betrachten

Für Emilia Roig ist es dennoch wichtig, die Herkunft und das Infektionsgeschehen getrennt zu betrachten. Denn die Ethnisierung und Kulturalisierung des Problems berge auch eine Gefahr: "Am Anfang der Pandemie hat sich gezeigt, dass sich viele fälschlicherweise sicher gefühlt haben, wenn sie keinen Kontakt zu Chinesen oder China hatten. Bestimmten ethnischen Communities eine besondere Rolle im Infektionsgeschehen zuzuweisen, ist daher kontraproduktiv", sagt Roig.

Wenn allerdings Großeltern mit Kindern und Enkeln in den gleichen vier Wänden leben, sind sie einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Das sei oftmals eine soziale, keine ethnische Frage.

Die soziale Situation birgt noch ein weiteres Risiko mit, sagt der Gesundheitsforscher Herrmann: "Häufig sind das Leute, die zum Beispiel rauchen oder aus verschiedenen Gründen ein etwas höheres Gewicht haben. In Studien hat sich gezeigt, dass das beides Faktoren sind, die zu schwierigeren Verläufen führen."

Man sehe daran sehr gut, dass die soziale Situation nicht nur das Risiko sich zu infizieren erhöht, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, dass es bei einer Infektion zu einem schlimmeren Verlauf kommt.

Erst die Sorglosigkeit, dann ein tödlicher Fall in der Familie

In der Familie von Gülhan Helvaci-Ballikaya gab es vor Kurzem einen tödlichen Corona-Fall. Sie hat ihre Großtante verloren; eine 84-Jährige, die mit ihrem Ehemann, ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter in Rudow zusammengewohnt hat. Das Ehepaar hatte oft Besuch von ihren anderen Kindern.

Alles ging sehr schnell: Innerhalb von vier Tagen verstarb die Großtante. Vermutlich hat sie sich in der Tagesspflege in Neukölln mit dem Virus angesteckt. Vier Haushalte mussten aufgrund der Ansteckung in Quarantäne.

Gülhan Helvaci-Ballikaya habe vorher das Risiko, sich mit dem Virus anzustecken und daran schwer zu erkranken, nicht richtig abwägen können, sagt sie. Bis sie selbst eine Angehörige verloren hat. Dieses diffuse Gefühl der Sorglosigkeit, das sie beschreibt, hatten auch andere, wie die Gespräche mit ihren Klientinnen zeigen.

Emilia Roig (Quelle: rbb/Dena Kelishadi)
Infektionsgeschehen und Ethnie sollten getrennt betrachtet werden, meint Emilia Roig | Bild: rbb/Dena Kelishadi

Berliner Senat müsste anders aufklären

Hat der Senat es versäumt, zielgruppengerechter aufzuklären? Wolfram Herrmann von der Charité kritisiert, dass am Anfang der Pandemie alle Informationen nur auf Deutsch verfügbar waren. Das habe sich zwar mittlerweile verändert. "Es gab dann auch den Brief des Regierenden Bürgermeisters in verschiedenen Sprachen. Aber das setzt voraus, dass man sich diese Informationen aktiv zusammensucht und da ist schon eine gewisse Lücke in der Kommunikation", sagt der Wissenschaftler. Er sieht nach wie vor politischen Handlungsbedarf.

Traditionellen Familien wie der von Helvaci-Ballikaya verlangen die Abstands- und Kontaktvermeidungsregeln offenkundig besonders viel ab. Dass sie beispielsweise nach dem Tod ihrer Großtante ihre trauernden Verwandten nicht besuchen konnte, sei hart gewesen, sagt Gülhan Helvaci-Ballikaya. "Aber in der Corona-Pandemie durften wir das nicht und wir haben uns alle drangehalten. Obwohl wir Türken sind", sagt sie mit einem Lachen. Dass sie lacht, täuscht kaum darüber hinweg, wie traurig und schwer zu ertragen diese pandemischen Zeiten für viele sind. Auch und besonders für Menschen mit Migrationsgeschichte.

Sendung: rbbKultur, 14.11.2020, 19:05 Uhr

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Beitrag von Dena Kelishadi

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