Interview | Immunologe Leif Erik Sander - "Man sollte auch Kindern und Jugendlichen eine Impfung anbieten"

Noch in dieser Woche will die Stiko ihre Impf-Empfehlung für Kinder ab zwölf Jahren überarbeiten. Womöglich auch deshalb, weil neue Daten aus den USA vorliegen. Diese legen eine Impfung nah, meint Charité-Experte Leif Erik Sander im rbb-Interview.
Berlin liegt aktuell bei einer Inzidenz von über 60, das heißt, nach den alten Regeln des vergangenen Winters und Frühjahrs müsste der Senat nun Maßnahmen einleiten, um diese Zahl wieder nach unten zu drücken. Doch inzwischen sind 55 Prozent der Menschen in Berlin vollständig geimpft. Wieviel das angesichts der Delta-Variante wert ist, was aus dem Inzidenzwert werden sollte und warum Impfungen für Kinder und Jugendliche Sinn machen könnten - darüber spricht Leif Erik Sander, Leiter der Forschungsgruppe Infektionsimmunologie und Impfstoffforschung an der Charité, mit Inforadio-Moderatorin Dörte Nath.
rbb: Herr Sander, wie bewerten Sie diese Inzidenz von über 60 in Berlin?
Leif Erik Sander: Man muss sich jetzt vor allem die Trends ansehen. Wir sehen derzeit kontinuierlich steigende Inzidenzen. Natürlich kann man diese Zahlen jetzt nicht mehr eins zu eins übersetzen, wie das vor dem Start der Impfkampagne noch der Fall war oder zu Beginn, als noch sehr wenige Menschen geimpft waren. Natürlich haben wir jetzt große Teile der Bevölkerung schützen können durch eine Impfung.
Allerdings dürfen wir auch nicht vergessen: Es gibt natürlich noch einen erheblichen Teil von Ungeschützten, dazu zählen vor allen Dingen auch Kinder und Jugendliche. Und es gibt auch Menschen, die nicht gut auf die Impfung ansprechen. Hohe Inzidenzen werden auch wieder zu Krankenhausaufnahmen intensiv stationären Patienten führen. Und auch zu Todesfällen, das sehen wir auch.
Baden-Württemberg orientiert sich jetzt ganz offiziell nicht mehr an der Inzidenz, sondern an der Krankenhaus-Auslastung. Macht das Sinn?
Wenn man auf die Indizes schaut, wie viele Betten belegt sind und wie viele Intensivbetten, dann macht das natürlich Sinn, das zeichnet ein realistisches Bild der Lage. Andererseits kann man dann eben nicht sehr vorausschauend reagieren, weil so etwas mit einer gewissen zeitlichen Latenz auftritt. Bevor ein Patient auf der Intensivstation landet, vergehen meist zehn bis 14 Tage nach der Ansteckung. Und dann kann es sein, dass da schon eine große Welle kommt, die man dann nicht antizipiert.
Man muss auf verschiedene Indikatoren schauen, dabei vor allem auf die Trends. Wenn die steil nach oben gehen, dann musste man entsprechend reagieren. Wir wissen noch nicht ganz genau, wie das Verhältnis nachher sein wird, wie viele Infektionen es gibt und wie viele davon dann ins Krankenhaus müssen auf Grundlage der Impfquote. Das ist schwieriger zu kalkulieren, als es vorher war.
Jetzt sind wir ja mit der Zahl der vollständig Geimpften noch ziemlich weit entfernt von der Herdenimmunität. Mindestens 85 Prozent vollständig Geimpfte braucht man dafür, heißt es ja immer. Wenn sich jetzt aber mehr und mehr herausstellt, dass auch Geimpfte sich anstecken und das Virus weitertragen können - kann man dann eine Herdenimmunität überhaupt erreichen?
Die klassische Herdenimmunität im eigentlichen Sinne, dass dann der Erreger nicht mehr zirkulieren kann und vollständig eliminiert wird, das ist, glaube ich, nicht mehr erreichbar, weil dieses Virus anscheinend eben auch und bei Geimpften wieder zur Ansteckung führen kann und auch zur Weitergabe.
Was die Impfung weiterhin sehr gut gewährleistet, ist, dass die allermeisten Geimpften gar nicht krank werden und schon gar nicht schwer erkranken. Man darf auch nicht vergessen: Es gibt zwar Impfdurchbrüche, die sind aber relativ gesehen zu ungeimpften Menschen selten. Die Impfung hat einen Effekt, aber dieser Effekt kommt eben aufgrund der Delta-Variante erst dann zum Tragen, wenn sehr viel mehr Menschen geimpft sind.
Zu diesen Menschen gehören dann ja vielleicht auch Kinder und Jugendlichen über zwölf Jahren. Die Ständige Impfkommission (Stiko) wird voraussichtlich in dieser Woche ihre neue Empfehlung bekanntgeben. Wie bewerten Sie das?
Es ist tatsächlich so, dass Kinder und Jugendliche zum Glück seltener schwer erkranken durch dieses neue Coronavirus. Allerdings wissen wir noch nicht ganz genau, wie die Verläufe mit dieser Delta-Variante sind.
Es gibt Berichte aus den USA und anderen Ländern, dass es dort jetzt bei sehr hohen Infektionszahlen auch mit schwerkranken Kindern zu Krankenhaus-Einweisungen kommt. Es gibt also schon auch ein Potenzial dafür, dass auch Kinder schwer erkranken. Die amerikanischen Behörden verfolgen das sehr genau. Deren Auswertungen zeigen: Wenn man die Risiken einer Impfung vergleicht mit denen einer Infektion, dann sagen sie ganz klar, dass alles dafür spricht, auch Kindern und Jugendlichen eine Impfung anzubieten. Denn auch hier sind Langzeitfolgen einer Infektion vollkommen unklar. Von daher ist meine ganz persönliche Einschätzung die, dass man auch diese Altersgruppe impfen, beziehungsweise ihnen eine Impfung anbieten sollte.
Herr Sander, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Dörte Nath, Inforadio.
Sendung: Inforadio, 16. August 2021, 7:05 Uhr