#Wiegehtesuns? l Die Post-Covid-Patientin - "Es fühlt sich an wie ein Schleier vorm Gehirn"

Di 11.10.22 | 08:05 Uhr | Von Anja Herr
Michelle.(Quelle:rbb)
Video: rbb24 Abendschau | 11. Oktober 2022 | Anja Herr | Bild: rbb

Michelle kann nicht im Supermarkt einkaufen, nicht arbeiten, keinen Sport machen – seit anderthalb Jahren leidet sie unter dem Post-Covid-Syndrom. Die 31-Jährige hofft, dass sich endlich eine Behandlung findet, die ihr hilft. Ein Gesprächsprotokoll.

Das Coronavirus stellt unser Leben auf den Kopf. In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, wie ihr Alltag gerade aussieht – persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.

Im Februar 2021 ist Michelle an Covid erkrankt. Seitdem ist sie nicht mehr gesund geworden. Es fällt ihr schwer, sich zu konzentrieren. Von den kleinsten Tätigkeiten ist sie völlig erschöpft. So geht es Michelle:

Anfang letzten Jahres hatte ich meinen Job als Sozialarbeiterin gekündigt, um ein Semester zu studieren. Im Februar bekam ich Corona. Es galt als milder Verlauf. Ich war nicht im Krankenhaus, sondern zuhause isoliert. Mild hat es sich für mich nicht angefühlt, im Gegenteil: Es war schrecklich. Ich konnte mich irgendwann nicht mehr auf den Beinen halten, ich hatte Geschmacks- und Geruchsverlust. Ich war verwirrt, wusste nicht mehr, in welchem Raum sich jetzt eigentlich die Toilette befindet. Und die Krankheit ging einfach nicht mehr weg. Sie ging bei mir direkt in Post-Covid über.

In den ersten Monaten war ich fast bettlägerig, kann man sagen. Anfang dieses Jahres habe ich eine Sauerstoff-Therapie gemacht, und seitdem mache ich schrittweise kleine Fortschritte, die für mich ganz groß sind, aber die von außen betrachtet sehr, sehr klein sind. Weil ich immer noch nicht in den Supermarkt gehen kann. Weil ich weiß, ich kann keine hundert Meter normal laufen. Ich brauche beim Reisen den Rollstuhl, weil ich mich gar nicht am Bahnhof fortbewegen kann.

Ich habe Noise-Cancelling-Kopfhörer gekauft, weil ich extrem reizempfindlich bin. Wenn man jemanden mit Post-Covid trifft, dann sieht man eigentlich nur die Spitze des Eisbergs. Denn man sieht die Leute sowieso nur, wenn sie von ihrem schlechten Zustand den bestmöglichen Tag haben. Sonst würden sie sich ja gar nicht zeigen, sonst geht es gar nicht von der Kapazität.

Bei mir ist es so, dass ich immer wieder unter Fatigue leide – Erschöpfung. Und unter "Brainfog", also Konzentrationsprobleme habe. Es fühlt sich an, als hätte man einen konstanten Schleier vorm Gehirn, durch den man sich durchkämpfen muss. Ich kann mich nicht normal mit jemandem unterhalten, sondern ich muss mich immer total anstrengen, im Gespräch dabeizubleiben, mich zu erinnern, was der andere gerade gesagt hat.

Ich versuche auch immer wieder, an meiner Hausarbeit für mein Masterstudium zu schreiben. Aber es geht nicht. Ich schaffe maximal zwei Sätze, und auch das nur an guten Tagen. Ich weiß nicht, ob ich mein Masterstudium jemals abschließen werde. Und ich kann gerade auf keinen Fall als Sozialarbeiterin arbeiten wie vor dem Studium. Ich habe ja gar nicht die Kraft, bei sich streitenden Menschen dazwischenzugehen. Ich kann auch nicht in einer Schule arbeiten gehen als Schul-Sozialarbeiterin, denn ich schaffe ja nicht die 90 Meter zum Klassenzimmer, geschweige denn kann ich das Treppenhaus runtergehen, auf den Schulhof. All das kann ich nicht.

Ich kann auch nicht einkaufen gehen. Im Supermarkt läuft oft Musik, da ist es laut, da ist das Gemurmel der anderen Menschen. Und ich kann ja sowieso keine hundert Meter normal laufen wie andere. Das heißt, ich schaffe den Gang zur Kasse mit meinen Sachen gar nicht, weil ich auch nicht tragen kann. Das sind ganz unterschiedliche Dinge. Hürden, an die man vorher nie gedacht hat, dass es sie geben könnte.

Mein Leben vor der Erkrankung hat mit meinem Leben jetzt überhaupt nichts gemeinsam. Ich war vorher sehr aktiv, habe viel Sport gemacht, war eigentlich jeden Abend unterwegs, habe Freunde getroffen, bin viel Fahrrad gefahren, gerne verreist, kurzum: war aktiv. Und jetzt ist aktiv sein überhaupt nicht möglich. Das heißt: Ich bin die meiste Zeit des Tages zu Hause.

Infobox

Long-Covid ist der Oberbegriff für Langzeitfolgen nach einer Ansteckung mit dem Coronavirus. Damit werden Symptome erfasst, die mehr als vier Wochen nach Ansteckung mit dem Coronavirus fortbestehen, sich verschlechtern oder neu auftreten.

Von einem Post-Covid-Syndrom spricht man, wenn Long-Covid-Beschwerden nach drei Monaten immer noch bestehen und mindestens zwei Monate lang anhalten oder wiederkehren nach einer Infektion mit dem Coronavirus.

Vielleicht kann man es sich so vorstellen: Die normale Kraft, die jemand zur Verfügung hat, ist ein volles Glas Wasser. Und ich habe wahrscheinlich nur ein Drittel zur Verfügung. Vielleicht nicht mal das. Und ich weiß es vorher auch gar nicht: Manchmal wache ich auf und fühle mich eigentlich ganz gut. Und dann stelle ich mich an den Herd. Ich mache mir einen Kaffee und setze mich hin. Und dann bin ich davon so erschöpft, dass die ganz Kraft, von der ich dachte, sie sei da, schon weg ist. Mein Glas habe ich also gerade schon leer gemacht, obwohl der Tag gerade erst angefangen hat.

Problematisch ist auch, dass viele Ärzte sich mit Post-Covid noch nicht auskennen und manchmal sogar falsche Tipps geben. Das ist mir auch schon passiert. Dann belaste ich mich zu sehr, und dann verschlimmert sich mein Zustand.

Was ich mir wünsche, ist für uns Betroffene ein einfacher Zugang zu Fachpersonal, die sich wirklich mit Post-Covid auskennen. Denen bewusst ist, dass es unterschiedliche Gruppen bei den Post-Covid-Erkrankungen gibt. Und dass vor allem auch die Menschen abgeholt werden, die auf Grund der Erkrankung gar nicht die kognitiven Fähigkeiten haben, sich über die Möglichkeiten zu informieren. Ich kann das ja auch erst seit Kurzem wieder: lesen, und zumindest versuchen, mich in Sachen hineinzuarbeiten. Aber ohne meinen Partner, der mich unglaublich unterstützt hat, hätte ich da auch keinen Zugang gehabt.

Insgesamt ist es für Post-Covid-Betroffene ganz schwierig, ernst genommen zu werden. Was auch daran liegt, dass man vielen von uns die Krankheit auf den ersten Blick nicht ansieht. Viele von uns wünschen sich, glaube ich, ein gebrochenes Bein zu haben, mit einer Schiene dran, damit das für alle sichtbar ist. Damit man nicht immer über seine Krankheit diskutieren muss. Ein gebrochenes Bein ist ein gebrochenes Bein. Und dafür gibt es Behandlungsmöglichkeiten. Es ist nicht leicht, ein gebrochenes Bein zu haben, das möchte ich damit nicht sagen. Aber es gibt einen Fahrplan. Den gibt es bei Post-Covid nicht. Den brauchen wir aber. Unbedingt.

Gesprächsprotokoll: Anja Herr

Sendung: rbb24 Inforadio, 11.10.2022, 12:00 Uhr

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Beitrag von Anja Herr

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