Geringe Astrazeneca-Nachfrage - Ärzte ohne Grenzen kritisiert drohende Impfstoffvernichtung

Der Impfstoff von Astrazeneca ist gut geeignet, um schnell viele Menschen zu impfen. Doch in Berlin und Brandenburg ist die Nachfrage so gering, dass Impfstoff wohl ungenutzt vernichtet werden muss - während andere Länder ihn dringend brauchen.
Die Organisation Ärzte ohne Grenzen hat die drohende Vernichtung von Impfstoff scharf kritisiert. Dass die Kühlschränke der Arztpraxen voll sind und Astrazeneca fast keine Abnehmer findet, sei ein Skandal, sagte Tankred Stöbe, Intensivmediziner und Vorstandsmitglied von Ärzte ohne Grenzen, dem rbb. "Das macht mich wirklich wütend", so Stöbe. Nicht einmal ein Drittel der Weltbevölkerung sei gegen das Virus geschützt. "Afrika ist der Kontinent, wo im Moment die Infektionszahlen mit am stärksten und rasantesten steigen." Allerdings sei bisher weniger als zwei Prozent der Bevölkerung geimpft. "Wir haben ein massives Problem", sagte Stöbe.
100.000 Impfdosen drohen bald zu verfallen
Wie der rbb zuvor berichtet hatte, läuft laut Schätzungen der Kassenärztlichen Vereinigung allein in Berliner Hausarztpraxen bei etwa 100.000 Astrazeneca-Dosen die Mindesthaltbarkeit in den kommenden zwei Wochen ab. Die Nachfrage war zuletzt stark gesunken, auch weil die Ständige Impfkommission (Stiko) für den Astrazeneca-Impfstoff eine Zweitimpfung mit den Impfstoffen von Biontech oder Moderna empfohlen hatte.
Die Senatsverwaltung für Gesundheit teilte auf Nachfrage von rbb24 mit, dass das Problem nur Astrazeneca-Impfdosen in den Hausarztpraxen betreffe. Die Impfdosen in den Impfzentren des Landes Berlin seien noch viele Wochen haltbar.
Auch Brandenburg hat zu viel Astrazeneca
Der Überschuss an Astrazeneca-Impfdosen macht sich auch in Brandenburg bemerkbar. Ungefähr 750 Dosen des Serums, deren Haltbarkeit am 31. Juli endet, lagern nach rbb-Informationen noch in den Brandenburger Impfzentren. Dazu kommen tausende weitere Astrazeneca-Dosen in den Arztpraxen.
"Bei uns liegen 200 Dosen im Kühlschrank", sagt etwa Allgemeinmedizinerin Astrid Tributh. Doch viele Patienten würden der Stiko-Empfehlung folgen und bei Zweitimpfungen einen anderen Impfstoff verlangen. Tribuths Astrazeneca-Vorrat ist zwar noch bis Ende August haltbar, doch auch bis dahin werde noch viel übrig bleiben, sagt die Ärztin. Dafür sei das Land Brandenburg mitverantwortlich, findet sie.
Brandenburg und die Kassenärztliche Vereinigung versuchen nun, überschüssige Impfdosen aus den Impfzentren und den Praxen "zielgerichtet zu vermitteln", also an Praxen, in denen doch noch Astrazeneca nachgefragt wird.
Impfzentren schließen, Sonderimpfaktionen starten
Ebenfalls wegen der nachlassenden Nachfrage und zugleich hoher Kosten wurde knapp sieben Monate nach dem Start der Corona-Impf-Kampagne in Berlin am Dienstag das erste der sechs Impfzentren geschlossen. Am Standort Tempelhof wurden am Nachmittag die letzten von insgesamt 175.000 Spritzen verabreicht.
Bis Ende August sollen in Berlin auch die Impfzentren Velodrom, Arena und Erika-Heß-Stadion schließen. Die Zentren in Tegel und in der Messe impfen mindestens bis Ende September weiter - möglicherweise auch darüber hinaus.
"Wir bringen den Impfstoff zu den Menschen"
Die Senatsverwaltung für Gesundheit setzt nun auf Sonderimpfaktionen, so wie zuletzt auf dem Ikea-Parkplatz in Lichtenberg. Ab Freitag sollen jeden Tag zwischen 14 und 17 Uhr "Spontan-Impfungen" ohne Anmeldung in drei Impfzentren angeboten werden.
Das Angebot sei zunächst voraussichtlich für vier bis sechs Wochen für die Impfzentren in Tegel, auf dem Messegelände in Charlottenburg und im Erika-Heß-Eisstadion in Wedding geplant. Dort soll nach Angaben der Gesundheitsverwaltung jeweils der Moderna-Impfstoff zum Einsatz kommen.
Auch Brandenburg plant, mit Sonderimpfaktionen die ungeimpfte Bevölkerung zu erreichen. "Der Impfstoff soll zu den Menschen kommen, nicht wie bislang die Menschen zum Impfstoff", sagte der Sprecher des Gesundheitsministeriums, Dominik Lenz. Es werde überlegt, wie den Brandenburgern ein unkompliziertes Impfangebot gemacht werden könne. "Impfen auf Parkplätzen, am Strand und auf Festivals, ohne Termin", dazu gebe es Gespräche mit den Kommunen, sagte Lenz.
Bund will Astrazeneca spenden
Martin Terhardt, Mitglied der Ständigen Impfkommission, begründet die Zurückhaltung gegenüber Astrazeneca mit der geringen Akzeptanz in der Bevölkerung. Dabei gelte, so Terhardt: "Auch bei Biontech, bei Moderna ist der Schutz vor Delta erst nach zwei Impfungen gut." Er sieht in der Kreuzimpfung mit anderen Impfstoffen nun eine Möglichkeit, das schlechte Image von Astrazeneca zu verbessern. "Astrazeneca mit einem anderen Impfstoff zu kombinieren, mit kürzerem Abstand, ist das, was jetzt attraktiv ist hinsichtlich der Deltavariante."
Die Bundesregierung hatte Anfang Juli beschlossen, bis Ende des Jahres mindestens 30 Millionen Corona-Impfdosen an Entwicklungsländer und andere Staaten abzugeben. Für die kostenlosen Spenden sollen Impfdosen der Hersteller Astrazeneca und Johnson&Johnson genutzt werden. Mindestens 80 Prozent der Impfstoff-Spende soll über die internationale Impf-Initiative Covax verteilt werden. Ab August sollen demnach alle weiteren Astrazeneca-Impfstofflieferungen für Deutschland an Drittländer gehen. Laut Bundesgesundheitsministerium rechnet Deutschland bis Ende Dezember noch mit 35 bis 38 Millionen Dosen von Astrazeneca.
Ärzte ohne Grenzen spricht von "politischem Versagen"
Hausärztin Astrid Tributh aber ist skeptisch. Afrika werde kaum warten, bis die "milde Gabe" der Europäer bereitsteht. "Da sind wir, glaube ich, auch etwas überheblich." Und für die Impfdosen, die demnächst ablaufen, sei das sowieso keine Option, sagt Tributh.
Auch für Tankred Stöbe von Ärzte ohne Grenzen kommen all diese Überlegungen für das Astrazeneca-Serum zu spät. Seine Organisation habe "seit Monaten auf diese Probleme hingewiesen", erfolglos. "Jetzt ist es eigentlich zu spät", so Stöbe, die Impfdosen, die in Deutschland bald verfallen, ließen sich nicht innerhalb von wenigen Tagen in andere Länder bringen. "Da zeigt sich abermals politisches Versagen in dieser Pandemie."
Sendung: Abendschau, 19.07.2021, 19:30 Uhr
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