Interview | Betriebsrätin und Krankenschwester auf Intensivstation - "Ich sehe ja täglich die erschöpften Kollegen, die nicht mehr können"
Obwohl auf der Station von Intensivkrankenschwester Anja Voigt deutlich weniger Corona-Patienten liegen als in der dritten Welle, ist keine Entlastung in Sicht. Auf einen Streik würde sie gerne verzichten, aber er sei eventuell nötig, sagt sie.
Anja Voigt ist Betriebsrätin und Krankenschwester auf der Intensivstation des Vivantes-Klinikums in Berlin-Neukölln. Der rbb hat seit Beginn der Corona-Krise immer wieder mit ihr über ihre Arbeitssituation gesprochen. Nun kurz vor einem möglichen Arbeitskampf: Die Verdi-Gewerkschaftsmitglieder bei Charité und Vivantes sowie die Beschäftigten der Vivantes-Tochtergesellschaften stimmen derzeit darüber ab. Die Bekanntgabe des Ergebnisses soll am Montag erfolgen. Die Klinikbeschäftigten fordern einen Tarifvertrag mit deutlichen Entlastungen.
rbb|24: Hallo Frau Voigt, wie finden Sie es, dass die Lokführer – auch weil sie Corona mitgewuppt haben – mehr Geld wollen und dafür streiken?
Anja Voigt: Ich finde es in Ordnung, dass sie für ihre Forderungen streiken. Ich finde es allerdings schade, dass sie streiken müssen. Aber dass sie es tun, finde ich richtig.
Das heißt vermutlich, dass Sie dem Thema Streiken positiv gegenüberstehen. Das gilt dann wahrscheinlich auch für den jetzt eventuell anstehenden Streik des Pflegepersonals?
Ja, wenn es nicht anders geht. Wir würden aber lieber auf den Streik verzichten. Ich kenne niemanden, der gerne streikt. Das ist ein wirklich großer Aufwand. Insofern würden wir uns lieber gleich an den Verhandlungstisch setzen. Aber das ist ja im Moment leider nicht möglich. Daher müssen wir wahrscheinlich streiken. Wir sind stark genug, um das durchzuziehen.
Das Personal im Pflegebereich war schon vor Corona überbelastet und knapp. Warum läuft der Laden überhaupt noch?
Weil die meisten, wenn nicht sogar alle, meiner Kollegen ans Limit gehen. Sie springen immer wieder ein, wenn sie frei hätten. Sie verzichten auf Pausen. Sie kommen auch, wenn sie sonntags angerufen werden, weil Kollegen krank geworden sind. Sie springen dann auch spontan in Spätdienste. Es ist die Leistungsbereitschaft meiner Kollegen, die den Laden am Laufen hält. Das hat aber die Folge, dass viele jetzt krank sind oder einfach nicht mehr können.
Die Impfungen sollten Corona und somit auch die mehr als angespannte Situation in den Krankenhäusern beenden oder zumindest in den Griff bekommen, hieß es. Haben sie wirklich eine Wende gebracht?
Was Corona-Patienten in der Klinik angeht, ja. Wir haben deutlich weniger Corona-Patienten. Auch die jetzt ansteigenden Zahlen [der Infektionen; Anm. d. Red.] sehen wir nicht so. Wir haben leicht ansteigende Zahlen, aber das lässt sich überhaupt nicht mit den Zahlen in der dritten Welle im Dezember vergleichen. Aber man darf nicht vergessen, dass wir noch all die anderen Patienten haben. Damit meine ich vor allem die mit den aufgeschobenen Operationen. Das ist wie ein Patienten-Stau, den wir jetzt abarbeiten. Insofern ist unsere Arbeitsbelastung nicht weniger geworden.
Wer liegt derzeit mit Corona bei Ihnen auf der Intensivstation?
Die Schwerkranken sind im Regelfall nicht geimpfte Menschen. Und die Patienten sind deutlich jünger als vorher: also unter 50 Jahren.
Was hat sich in den letzten anderthalb Jahren für Sie überhaupt verändert?
Zum Guten hat sich sehr wenig geändert. Das Einzige, was ganz gut ist, ist dass der Blick nun einmal auf die Krankenhäuser gerichtet ist. Da wird jetzt mal hingeschaut und es wird wahrgenommen, wie schlecht die Situation ist. Obwohl das ja seit Jahren von Pflegenden thematisiert wird. Jetzt hat man das mal täglich in den Nachrichten gesehen.
Ansonsten hat sich an der Situation in den Krankenhäusern selbst nichts verändert. Im Gegenteil. Es ist sogar noch schlimmer geworden. Denn viele haben durchgehalten während der Corona-Krise und haben geackert bis zum Umfallen. Jetzt, wo es ein wenig abflaut und wir weniger Corona-Patienten haben, können die einfach nicht mehr. Die sind K.o. Ich habe täglich Krankmeldungen von Kollegen. Es ist also im Alltag noch weniger Personal da als vor einem halben Jahr. Wir haben einen wahnsinnig hohen Krankenstand.
Was passiert, wenn weiter nichts passiert?
Darüber habe ich gerade kürzlich mit Kollegen gesprochen. Ich kann nur sagen, dass ich das Gefühl habe, dass gerade alles zusammenbricht. Nach außen hin geht es noch. Hier in Neukölln, wo ich arbeite, wird auch gerade ein Neubau gebaut – das hat eine gewisse Strahlkraft. Aber dahinter haben wir weniger Betten, weil zu wenig Personal da ist und meine Kollegen krauchen auf dem Zahnfleisch.
Ich mache mir wirklich Sorgen. Wenn sich nicht schnell was ändert, weiß ich gar nicht, wie man das noch machen will. Und ich höre das von überall. Es fehlt wirklich an allem.
Haben Sie selbst inzwischen mehr Sorge vor einem Burnout als vor Covid oder Long Covid?
Es ist beides eine große Gefahr. Vor Long Covid habe ich wirklich Angst. Damit wird zunehmend nachlässig umgegangen. Aber ich sehe ja auch zusätzlich täglich die erschöpften Kollegen, die nicht mehr können. Und warum sollte mich das nicht auch treffen können?
Was würden Sie sich wünschen?
Mehr Personal. Aber ich bin ja Realistin und weiß, dass das nicht vor der Tür steht. Ich wünsche mir so sehr, dass sich unsere Arbeitsbedingungen deutlich verbessern. Vielleicht muss man das erst über die finanzielle Schiene machen, um schnell einen Anreiz zu schaffen, damit neues Personal kommt.
Aber tendenziell muss sich auch die tägliche Arbeitssituation verbessern. Ich muss in der Lage sein, meine Patienten gut zu betreuen. Das kann ich heute oft nicht. Wenn sich daran nicht schnell was ändert, dann verlassen noch Zehntausende diesen Beruf. Und dann müssen vielleicht irgendwann die Angehörigen ins Krankenhaus kommen und ihre Verwandten pflegen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
Bisherige Interviews mit Anja Voigt:
- im März 2020: "Schon in normalen Zeiten arbeiten wir viel. Jetzt ist es doppelt so viel"
- im November 2020: "Wenn ich drei Intensivpatienten betreue, arbeite ich am Anschlag"
- im Dezember 2020: "Wir müssen alle durchhalten"
- im Dezember 2020: "Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll"
- im März 2021: "Die Patienten sind jetzt um die 50"