Meinung | Verbotene Demos - Was juckt es die deutsche Hauptstadt, wenn sich "Querdenker" an ihr reiben?

Mo 30.08.21 | 11:15 Uhr | Von Olaf Sundermeyer
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Eine Tafel mit der Aufschrift „We Are Revolution“ trägt ein Teilnehmer einer Demonstration gegen die Corona-Politik am 29.08.2021 (Bild: dpa/Christophe Gateau)
Bild: dpa/Christophe Gateau

Wieder sind ein paar Tausend wütende "Querdenker" zwei Tage lang durch Berlin gezogen. Doch der radikale Rest einer zerfallenen Bewegung beeindruckt die Politik nicht mehr. Polizisten und Journalisten machen ihren gewohnten Job. Von Olaf Sundermeyer

Warum im Triell der Kanzlerkandidaten nicht über "Querdenken" gesprochen wurde, fragte sich die auf Verschwörungserzählungen spezialisierte Psychologin Pia Lamberty noch am späten Sonntagabend auf Twitter. Waren doch die 5.000 verbliebenden "Querdenker" für die Kandidaten Baerbock, Laschet und Scholz in ihrem aus Berlin gesendeten Fernsehtriell (RTL) nicht der Rede wert.

Zuvor hatten sich die wütenden Protestierer trotz Demoverboten zwei Tage lang eine Art große Schnitzeljagd mit der Polizei über die Planquadrate der Berliner Innenstadtbezirke geliefert. Aber es ist offensichtlich, dass dieser radikale Rest der längst zerfallenen "Querdenken"-Bewegung kein Thema mehr für die Politik ist.

Vom allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs verabschiedet

Warum sollte er es auch sein? Eine kleine, wütende Gruppe, die mit ihrer aggressiven Missachtung des Infektionsschutzes durch die Berliner Kieze zieht, dort Anwohner und Gäste von Kneipen und Terrassencafés provoziert, Journalisten drangsaliert und Polizisten nach dem Demoverbot in einen aberwitzigen personalintensiven Einsatz zwingt. Die mit strategischer Absicht streckenweise den Verkehr im Zentrum der Hauptstadt lahmlegt, um Chaos zu stiften.

Es gibt schlicht keinen Grund dafür, dass sich die Politik dieser Leute annimmt. Sie haben sich vom allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs verabschiedet und eine eigene Partei gegründet ("Die Basis"), die sich dem demokratischen Votum der Wähler bei der Bundestagswahl stellen darf. Wer den "Querdenkern" und ihren Verschwörungserzählungen folgt, findet dort eine politische Heimat. Obwohl der Irrglaube dieser sektenähnlichen Gruppe von einer angeblichen "Corona-Diktatur" demokratiefeindlicher, grober Unfug ist. So funktioniert Demokratie.

Das bringt Berlin nicht aus der Fassung

Im Übrigen wird das politische Anliegen um die Wahrung der Grundrechte in Krisenzeiten längst in den Parlamenten verhandelt. Um die tatsächliche Gefahr, die von der Radikalisierung der "Querdenker" ausgeht, kümmern sich (hoffentlich) die Sicherheitsbehörden. Mit ihren verbleibenden Aktionen können sie Berlin jedenfalls nicht aus der Fassung bringen.

Derweil kleben sich bei anderen Protesten radikale Klima- oder Tierrechtsaktivisten bei Blockaden auf den Boden fest, belagern die CDU-Parteizentrale oder klettern auf das Brandenburger Tor. Aktionen, die Berlin wechselweise durch linke ("Extinction Rebellion") oder rechte Aktivisten ("Die Identitären") erlebt.

Gegner der AfD ("Unteilbar") kündigen vor der Bundestagswahl eine Großdemo für eine "solidarische und gerechte Gesellschaft" an, bei der zu hoffen ist, dass sich die Teilnehmer an das mit der Polizei vereinbarte Hygienekonzept halten.

Nicht wenige bringen mehr Menschen auf die Straße

Aufgebrachte Landwirte brettern in der erntefreien Zeit mit ihren riesigen Traktoren durch die Straßen Berlins, um für die fehlende Wertschätzung ihrer Arbeit zu werben. Tausende Fahrradfahrer rollen in ihrem Kampf um eine Verkehrswende durch die Hauptstadt und die Aktivisten von Black Lives Matter tragen ihr antirassistisches Anliegen vor.

Nicht wenige der zahlreichen Demonstrationsinitiativen versammeln deutlich mehr Menschen hinter ihrer jeweiligen Sache als die wütenden "Querdenker", die in ihrem selbst erklärten Recht auf Widerstand jeglichen Anstand vermissen lassen. Warum also sollte es die deutsche Hauptstadt jucken, wenn sich "Querdenker" an ihr reiben?

Sendung: Inforadio, 30.08.2021, 07:10 Uhr

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Beitrag von Olaf Sundermeyer

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