Sicherheitsgefühl - Wenn Selbstverteidigung zur Gefahr werden kann
Schreckschusswaffen, Elektroschocker oder Pfefferspray sollen mehr Schutz und weniger Angst versprechen, wenn man sich unterwegs unsicher fühlt. Doch bei der Anwendung dieser Produkte ist Vorsicht geboten.
Das Geschäft mit der Angst boomt. Immer mehr Deutsche fühlen sich im öffentlichen Raum unsicher. Laut einer Umfrage von Infratest Dimap sind es mittlerweile 40 Prozent. Zum Vergleich: 2017 waren es lediglich 23 Prozent. Dabei ist auch klar, das die tatsächliche Gewalt - nach einem Rückgang zu Pandemiezeiten - wieder ansteigt: In Berlin gab es im vergangenen Jahr 48.254 Fälle von Körperverletzung, ein Anstieg um mehr als 3.800 Fälle, wie Zahlen des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg zeigen. Auch in Brandenburg wurde 2023 laut Statistik mit rund 5.500 Fällen der höchste Stand der Gewaltkriminalität der vergangenen 15 Jahre verzeichnet.
Auch Schreckschusswaffen können lebensbedrohlich sein
Eine Folge dieser Entwicklung: Die Nachfrage an Schreckschusswaffen nimmt zu. Allein in Brandenburg hat sich die Zahl der kleinen Waffenscheine, die etwa das Halten einer Schreckschusswaffe erlauben, in den vergangenen zehn Jahren vervierfacht. Mitte 2024 hatten 25.682 Brandenburger einen solchen Waffenschein. Das waren 4.260 mehr als Ende des Jahres 2021, wie das Innenministerium in Potsdam auf eine Anfrage der AfD mitteilte. Ende 2014 waren bei der Brandenburger Waffenbehörde rund 6.500 Kleine Waffenscheine registriert, wie aus früheren Angaben des Ministeriums hervorgeht. Bundesweit ist der Trend ähnlich. Um den Schein zu bekommen, muss man lediglich über 18 Jahre alt sein und eine Überprüfung der Lebensumstände bestehen.
Anita Kirsten, Sprecherin der Gewerkschaft der Polizei Brandenburg, sieht die Zunahme mit Sorge, denn auch Schreckschusswaffen können lebensbedrohlich sein. "Zum einen kommt eben mit über 400 bar Gasdruck aus dieser Schreckschusswaffe" - das gebe einen lauten Knall, der gehörschädigend sein könne. Zum anderen könne es aber auch zu erheblichen Verletzungen kommen, wenn der Schuss in Körpernähe abgegeben wird.
Ein weiteres Problem: Die Schreckschusswaffen sehen echten Waffen täuschend ähnlich. Auch das könne für den Träger lebensgefährlich sein. Denn ein Polizist müsse immer davon ausgehen, dass es eine scharfe Waffe sei. "Das heißt, Bürgerinnen und Bürger müssen sich bewusst sein, dass sie damit eine Bedrohung darstellen", sagt Kirsten. Jeder Polizist werde dementsprechend handeln.
Kampfunfähig statt gerüstet
Doch es muss noch nicht einmal eine Schreckschusswaffe sein, auch andere Abwehrmittel wie etwa Elektroschocker oder spezielle Ringe, können gefährlich werden - und das nicht nur für den Angreifer. Mario Heinemann, Sprecher des Polizeipräsidiums Brandenburg, hält die meisten Produkte deshalb für ungeeignet, um Angreifer tatsächlich abzuwehren.
Das Pfefferspray etwa - auch K.O.-Spray genannt -, das mit der Bezeichnung "zur Tierabwehr" legal ab etwa acht Euro zu kaufen ist, sei potenziell eher für die Angegriffenen gefährlich: "Man weiß ja nicht, in welcher Situation man ist. Ist man in einem Raum? Ist man draußen? Ist man bei Gegenwind? Denn wenn ich starken Gegenwind habe, sprühe ich mir das selber ins Gesicht." Die angegriffene Person mache sich so im Zweifelsfall eher selbst kampfunfähig. Die Nachfrage steigt dennoch seit Jahren.
Spitze Gegenstände, sogenannte Kubotan in Form eines Schlüsselanhängers, oder Selbstverteidigungsringe sind im Handel erhältlich. Sie sehen harmlos aus, doch mit ihnen könne man schwerste Verletzungen verursachen, sagt Heinemann. "Ein Richter wird im Einzelfall immer prüfen, ob das ein geeignetes Mittel für die Selbstverteidigung ist. Und ich wage das zu bezweifeln", so seine Befürchtung. Ähnlich verhält es sich mit Elektroschockern, die, wenn sie ein Prüfsiegel haben, legal zu kaufen sind. Laut Heinemann könne es auch hier zu extrem gefährlichen Situationen kommen, wenn man ihn plötzlich selbst am Körper habe.
Alltagstaugliche Abwehr- und Befreiungstechniken?
Gerade wegen der Risiken, die mit solchen Geräten verbunden sind, wollen immer mehr Personen sich selbst verteidigen können. Selbstverteidigungskurse, vor allem für Frauen, sind beliebt. Versprochen werden zum Beispiel "Alltagstaugliche Abwehr- und Befreiungstechniken" oder "Wenn Frauen zum Gegenangriff übergehen".
Aber ist so ein Kurs empfehlenswert? Andreas Liebsch ist Kampfsportler, er trainiert seit 45 Jahren unter anderem Taekwondo und Karate und sieht viele der Angebote kritisch. Sich auf der Straße in lebensbedrohlichen Situationen zu verteidigen, sei "nicht einfach Peanuts. Das kann man nicht einfach so lernen", so Liebsch. Man müsse die Fähig- und Fertigkeiten wirklich verinnerlicht haben. Sein Fazit: "Ich denke, das ist eine Scheinsicherheit, die man da verkauft." Er empfiehlt stattdessen regelmäßiges Training - jahrelang.
Nicht ums Kämpfen, sondern um selbstbewusstes Auftreten geht es in den kostenlosen Kursen, die die Polizei deutschlandweit anbietet. Sogenannte "Selbstbehauptungs-Kurse". Der Gedanke dahinter: Die eigene Autorität und das eigene Selbstbewusstsein zu stärken, um selbstbewusster durchs Leben zu gehen. Denn ein Täter "wird sich immer das schwächste Glied in der Kette aussuchen", so Polizeisprecher Heinemann. "Und wenn ich selbstbewusst bin, dann wird er eher weniger mich angreifen".
Das einzige Produkt, das Heinemann wirklich empfehlen kann, ist ein Taschenalarm: Ein kleines Gerät, das im Aussehen an einen Autoschlüssel erinnert. Löst man den Alarm aus, macht das Gerät sehr lauten Lärm. Das soll den Angreifer verschrecken und für Aufmerksamkeit sorgen.
Das Geschäft mit der Angst scheint vor allem für die Hersteller lohnenswert. Komplett kostenfrei ist hingegen das Heimweg-Telefon: Ehrenamtliche Mitarbeitende begleiten Mann und Frau nachts am Telefon nach Hause, wenn sie sich unsicher fühlen. Im Notfall können sie sogar die Polizei alarmieren.
Korrekturhinweis: In einer früheren Version hatten wir "400 Ampere" statt "400 bar" geschrieben. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.
Sendung: Super.Markt, 18.11.2024, 20:15 Uhr