Sicherheitsgefühl - Wenn Selbstverteidigung zur Gefahr werden kann

Do 28.11.24 | 06:34 Uhr
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Symbolbild:Eine Person geht an einem Bahnhof nachts entlang.(Quelle:picture alliance/SZ Photo/R.Zöllner)
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Schreckschusswaffen, Elektroschocker oder Pfefferspray sollen mehr Schutz und weniger Angst versprechen, wenn man sich unterwegs unsicher fühlt. Doch bei der Anwendung dieser Produkte ist Vorsicht geboten.

Das Geschäft mit der Angst boomt. Immer mehr Deutsche fühlen sich im öffentlichen Raum unsicher. Laut einer Umfrage von Infratest Dimap sind es mittlerweile 40 Prozent. Zum Vergleich: 2017 waren es lediglich 23 Prozent. Dabei ist auch klar, das die tatsächliche Gewalt - nach einem Rückgang zu Pandemiezeiten - wieder ansteigt: In Berlin gab es im vergangenen Jahr 48.254 Fälle von Körperverletzung, ein Anstieg um mehr als 3.800 Fälle, wie Zahlen des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg zeigen. Auch in Brandenburg wurde 2023 laut Statistik mit rund 5.500 Fällen der höchste Stand der Gewaltkriminalität der vergangenen 15 Jahre verzeichnet.

Auch Schreckschusswaffen können lebensbedrohlich sein

Eine Folge dieser Entwicklung: Die Nachfrage an Schreckschusswaffen nimmt zu. Allein in Brandenburg hat sich die Zahl der kleinen Waffenscheine, die etwa das Halten einer Schreckschusswaffe erlauben, in den vergangenen zehn Jahren vervierfacht. Mitte 2024 hatten 25.682 Brandenburger einen solchen Waffenschein. Das waren 4.260 mehr als Ende des Jahres 2021, wie das Innenministerium in Potsdam auf eine Anfrage der AfD mitteilte. Ende 2014 waren bei der Brandenburger Waffenbehörde rund 6.500 Kleine Waffenscheine registriert, wie aus früheren Angaben des Ministeriums hervorgeht. Bundesweit ist der Trend ähnlich. Um den Schein zu bekommen, muss man lediglich über 18 Jahre alt sein und eine Überprüfung der Lebensumstände bestehen.

Anita Kirsten, Sprecherin der Gewerkschaft der Polizei Brandenburg, sieht die Zunahme mit Sorge, denn auch Schreckschusswaffen können lebensbedrohlich sein. "Zum einen kommt eben mit über 400 bar Gasdruck aus dieser Schreckschusswaffe" - das gebe einen lauten Knall, der gehörschädigend sein könne. Zum anderen könne es aber auch zu erheblichen Verletzungen kommen, wenn der Schuss in Körpernähe abgegeben wird.

Ein weiteres Problem: Die Schreckschusswaffen sehen echten Waffen täuschend ähnlich. Auch das könne für den Träger lebensgefährlich sein. Denn ein Polizist müsse immer davon ausgehen, dass es eine scharfe Waffe sei. "Das heißt, Bürgerinnen und Bürger müssen sich bewusst sein, dass sie damit eine Bedrohung darstellen", sagt Kirsten. Jeder Polizist werde dementsprechend handeln.

Kampfunfähig statt gerüstet

Doch es muss noch nicht einmal eine Schreckschusswaffe sein, auch andere Abwehrmittel wie etwa Elektroschocker oder spezielle Ringe, können gefährlich werden - und das nicht nur für den Angreifer. Mario Heinemann, Sprecher des Polizeipräsidiums Brandenburg, hält die meisten Produkte deshalb für ungeeignet, um Angreifer tatsächlich abzuwehren.

Das Pfefferspray etwa - auch K.O.-Spray genannt -, das mit der Bezeichnung "zur Tierabwehr" legal ab etwa acht Euro zu kaufen ist, sei potenziell eher für die Angegriffenen gefährlich: "Man weiß ja nicht, in welcher Situation man ist. Ist man in einem Raum? Ist man draußen? Ist man bei Gegenwind? Denn wenn ich starken Gegenwind habe, sprühe ich mir das selber ins Gesicht." Die angegriffene Person mache sich so im Zweifelsfall eher selbst kampfunfähig. Die Nachfrage steigt dennoch seit Jahren.

Spitze Gegenstände, sogenannte Kubotan in Form eines Schlüsselanhängers, oder Selbstverteidigungsringe sind im Handel erhältlich. Sie sehen harmlos aus, doch mit ihnen könne man schwerste Verletzungen verursachen, sagt Heinemann. "Ein Richter wird im Einzelfall immer prüfen, ob das ein geeignetes Mittel für die Selbstverteidigung ist. Und ich wage das zu bezweifeln", so seine Befürchtung. Ähnlich verhält es sich mit Elektroschockern, die, wenn sie ein Prüfsiegel haben, legal zu kaufen sind. Laut Heinemann könne es auch hier zu extrem gefährlichen Situationen kommen, wenn man ihn plötzlich selbst am Körper habe.

Tipps und Links

Sicher unterwegs

- Gefahren von vornherein vermeiden, also sich zum Beispiel nachts abholen lassen oder ein Taxi nehmen.

- Nicht alleine gehen

- Helle und belebte Wege wählen

- Keine Kopfhörer tragen, denn nachts sind alle Sinne wichtig.

- Polizeisprecher Mario Heinemann rät für den Fall der Fälle: "Ruhig bleiben, die Situation nicht eskalieren lassen, gegebenenfalls Sachen auch einfach übergehen. Das Leben ist mehr wert als irgendwelche Sachwerte."

Links

- heimwegtelefon.net

- berlin.de/polizei

- polizei.brandenburg.de

 

Alltagstaugliche Abwehr- und Befreiungstechniken?

Gerade wegen der Risiken, die mit solchen Geräten verbunden sind, wollen immer mehr Personen sich selbst verteidigen können. Selbstverteidigungskurse, vor allem für Frauen, sind beliebt. Versprochen werden zum Beispiel "Alltagstaugliche Abwehr- und Befreiungstechniken" oder "Wenn Frauen zum Gegenangriff übergehen".

Aber ist so ein Kurs empfehlenswert? Andreas Liebsch ist Kampfsportler, er trainiert seit 45 Jahren unter anderem Taekwondo und Karate und sieht viele der Angebote kritisch. Sich auf der Straße in lebensbedrohlichen Situationen zu verteidigen, sei "nicht einfach Peanuts. Das kann man nicht einfach so lernen", so Liebsch. Man müsse die Fähig- und Fertigkeiten wirklich verinnerlicht haben. Sein Fazit: "Ich denke, das ist eine Scheinsicherheit, die man da verkauft." Er empfiehlt stattdessen regelmäßiges Training - jahrelang.

Nicht ums Kämpfen, sondern um selbstbewusstes Auftreten geht es in den kostenlosen Kursen, die die Polizei deutschlandweit anbietet. Sogenannte "Selbstbehauptungs-Kurse". Der Gedanke dahinter: Die eigene Autorität und das eigene Selbstbewusstsein zu stärken, um selbstbewusster durchs Leben zu gehen. Denn ein Täter "wird sich immer das schwächste Glied in der Kette aussuchen", so Polizeisprecher Heinemann. "Und wenn ich selbstbewusst bin, dann wird er eher weniger mich angreifen".

Das einzige Produkt, das Heinemann wirklich empfehlen kann, ist ein Taschenalarm: Ein kleines Gerät, das im Aussehen an einen Autoschlüssel erinnert. Löst man den Alarm aus, macht das Gerät sehr lauten Lärm. Das soll den Angreifer verschrecken und für Aufmerksamkeit sorgen.

Das Geschäft mit der Angst scheint vor allem für die Hersteller lohnenswert. Komplett kostenfrei ist hingegen das Heimweg-Telefon: Ehrenamtliche Mitarbeitende begleiten Mann und Frau nachts am Telefon nach Hause, wenn sie sich unsicher fühlen. Im Notfall können sie sogar die Polizei alarmieren.

Korrekturhinweis: In einer früheren Version hatten wir "400 Ampere" statt "400 bar" geschrieben. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.

Sendung: Super.Markt, 18.11.2024, 20:15 Uhr

26 Kommentare

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  1. 26.

    Selbst bewaffnete Polizisten rennen weg und retten so ihr eigenes Leben, wenn sie von eine Übermacht angegriffen werden und sich keine Verteidigungschancen ausrechnen können. Als Laie ist man auch nicht geschult, wie man im Vorfeld eines Angriffs verbal deeskalieren könnte. Die GEschäftsleute im Waffenhandel wollen einfach nur Umsatz machen. Wr denklt etwa beim Einsatz von Pfefferspray an den Fall, wenn Gegenwind weht, zumal kein normaler Bürger mit Helm und Visier rumläuft..??

  2. 25.

    Die Straftaten pro 100.000 Einwohner pendeln um die 14.000 und das seit 10 Jahren. (Statista)
    Unter Berlin.de finden sie die genauere Statistik der Polizei ab 2002.

  3. 24.

    Ich vermisse im Beitrag Angaben dazu, seit wann die Sicherheit so nachgelassen hat und was dagegen unternommen wird, wenn man sich nicht selbst verteidigen soll. Wenn ich Mittel zu meiner Verteidigung mitführe, um sie gegen Angreifer zu benutzen und den Angreifer damit verletze, handle ich vorsätzlich und nicht in Notwehr.
    Folglich würde ich mich nicht um den verletzten Angreifer kümmern und unerkannt meiner Wege gehen, da ich sonst mit einer Anzeige wegen vorsätzlicher Körperverletzung rechnen muss. Ist das korrekt?

  4. 23.

    “ …ein Aussetzen der Bürgerrechte für den Täter gäbe…“
    Eine richtig gute Idee…. Ich befinde dann also wer Täter ist und dann kann ich mit demjenigen machen was ich will.
    Und jetzt überlegen sie mal das macht jemand mit ihnen… dann reden wir nochmal über das Aussetzen von Rechten.

  5. 22.

    Es besteht ein extremer Unterschied zwischen Training und Realität. Man muss mental dazu in der Lage sein, dem Anderen bewusst, gewollt, schnell und kompromisslos Schmerzen zu zufügen und gleichzeitig diese Fähigkeit im "friedlichen" Alltagsleben, wozu ich auch heftige Wortgefechte, gar "Schubsereien", zähle, vollständig und immer unter Kontrolle zu haben. Es dürften nur relativ wenige sein, die dies beherrschen. Das sie sich wohl aufgrund ihrer Kenntnisse relativ sicher fühlen und vermutlich auch selbstbewusst auftreten, sich bewegen ist schon fast die halbe Miete. Eine Vermeidungsstrategie ist keine Feigheit und in Zeiten, wo nahezu jeder Depp ein Messer dabei hat mitunter überlebenswichtig.

  6. 21.

    Da bin ich ganz bei Ihnen. Ein gesundes Abwägen etwaiger Gefahrensituationen schützt nat. nicht grundsätzlich davor, Opfer von Straßenkriminalität zu werden; hilft aber doch dabei, gewissen Situationen aus dem Weg zu gehen. Und wenn es dann doch mal dazu kommen sollte, dass man keinen Ausweg mehr findet, muss man sich mit aller Kraft und szn. über seine Grenzen hinaus gehend wehren und von im besten Falle erlernten Techniken, aber auch von "Kratzen und Beissen" etc. Gebrauch machen.

  7. 20.

    Wegrennen? Keine Chance! Ich bin fett, ich MUSS kämpfen.

  8. 19.

    Vielleicht fangen wir erstmal damit an, Selbstverteidigung zu entkriminalisieren.. selbst wenn der Täter dadurch schwerste Verletzungen davonträgt. Ideal wäre es, wenn es für das juristische Zeitfenster der Gegenwärtigkeit ein Aussetzen der Bürgerrechte für den Täter gäbe, so daß man sich in jedem Fall straffrei verteidigen kann.

  9. 18.

    Ich habe extra mit Gesangsunterricht angefangen.

  10. 17.

    Ihr Optimismus in allen Ehren. Glauben Sie mir, ein-zwei gut platzierte Schläge von einem 90-Kilo-Mann und Sie sind im Reich der Träume oder zumindest wehrlos. Solche Zeitgenossen lachen über Ihre Kampftechniken.

  11. 16.

    Technisch ist ihr Vorschlag einer lokalisierbaren Notfallkamera wahrscheinlich kein Problem, doch wird es wohl nur Sinn machen, wenn jedes Exemplar personalisiert registriert ist, weil sonst auf einen echten Alarm dutzende unseriöse "Spaßalarme" fallen könnten.

  12. 15.

    Ich hab immer eine Tüte Watte Bällchen dabei, damit bewerfen ich den Aggressor das ganze untermale ich mit lautem Gesang, das soll ja helfen

  13. 14.

    Nee, da wurde der Bericht erstellt. Veröffentlicht wurde er heute. Er lag solange in der Schublade "Lückenfüller".
    Jetzt besser?

  14. 13.

    Ach so der Bericht ist ja schon hoffnungslos veraltet . 18.11.24.

  15. 12.

    Ist ja klasse das ihr seit dem Mittag keine neuen Konnentare mehr veröffentlicht habt Kann sicherlich nicht daran liegen das es keine gab.

  16. 11.

    Mehr Solidarität könnte oftmals hilfreich sein, in der U-Bahn, auf vielen Straßen, oder im Wohnhaus. Wir, die Gewalt nicht wollen, sind auf jeden Fall mehr, als gewaltbereite Männer es sind.

  17. 10.

    Naja, kann passieren. Der Autor hat an eine Gasentladungsröhre gedacht und, meine Güte, so'n Waffenlauf ist ja auch nur 'ne Röhre.

    Seit es Drehstrom-zu-USB-C-Adapter gibt wundert mich nichts mehr.

  18. 9.

    Mein Bauchhirn oder Instinkt warnt mich meistens rechtzeitig.
    Wenn ich trotzdem angegriffen werde, würde ich mich bis zum erbrechen verteidigen, ich gebe niemals kampflos auf, habe mir ein Paar „interessante“ Griffe und Tritte angeeignet. Man entwickelt ja in solchen Situationen enorme Kräfte und das Adrenalin schaltet eventuellen Schmerz aus.
    Aber das muss jeder für sich selber entscheiden. Man ja muss auch nicht unbedingt alleine durch „dunkle gefährliche Gassen/Gegenden“ gehen.

  19. 8.

    “ Ich befürworte Einschränkungen von Alkoholverfuegbarkeit, mehr Verbote überhaupt, und Kontrollen!“
    Welche Alkoholverfügbarkeit Schränken sie denn in Kneipen, Clubs usw. ein ?
    Mehr Verbote ? Na welche denn ?
    Und Kontrollen durch wen?
    Und bitte nicht das übliche Wunschdenken… Polizei die ohne weitere Beamte nicht überall sein können.

  20. 7.

    400 Ampere Gasdruck? was ist das denn für ein Blödsinn?

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