Meinung | Versprechen in der Coronakrise - Mehr Demut wagen
In den vergangenen Wochen wurde in Sachen Corona wieder viel vorgeprescht, behauptet und versprochen - in der Politik und in den Medien. Dabei sollte die Pandemie inzwischen doch gezeigt haben, wie wenig das hilft, meint Haluka Maier-Borst.
Wo waren Sie vor einem Jahr am Wochenende? Vielleicht auf einer Party? In einem Restaurant? Oder bei einem entspannten Abend im Kino? Die Chancen stehen ganz gut, dass Ihr Wochenende dieser Tage jedenfalls anders aussieht als vor zwölf Monaten. Der Grund … ach, Sie wissen schon.
Das Coronavirus zeigt uns seit März, wie schnell die Dinge aus der Bahn geraten. Ein Virus, das selbst Epidemiologinnen, Virologen, Vakzin-Forscherinnen und manch anderen Experten klar macht, wie viel sie nicht wissen. Ein Virus, das uns allen seit fast einem Jahr eine Lehrstunde in Sachen Demut gibt.
Oder geben müsste - denn offensichtlich fällt das Lernen dieser Lektion einigen besonders schwer. Nämlich jenen, die einen unbändigen Drang nach Gewissheit verspüren. Jenen, die mit viel Willen und Überzeugung die großen Ungewissheiten übertünchen und einfach loslegen möchten.
Mal eben mehr Impfstoff produzieren? Leider nicht.
Ein gutes Beispiel dafür ist Dilek Kalayci (SPD), die Gesundheitssenatorin von Berlin. Erst führte sie ohne Rücksprache mit den Gesundheitsämtern eine Corona-Ampel ein. Das trieb die Amtsärzte auf die Barrikaden, auch weil man diese "fachlich-medizinisch in keiner Weise angehört oder eingebunden" habe. Im Sommer erklärte Kalayci dann, dass das Verbreitungsproblem die feierwütigen Jugendlichen und die Clubs seien – obwohl es keinerlei Belege für diese Behauptung gab.
Und nun war es das Versprechen vom Berliner Impfstoff, das Kalayci am Donnerstagmittag mit viel Verve im Abgeordnetenhaus vortrug – und das sich schon im Laufe des Nachmittags wieder auflöste. Wer hätte auch denken können, dass das Produzieren eines Impfstoff so kompliziert ist? Vor allem nachdem die Biontech-Gründer Özlem Türeci und Ugur Sahin schon vor Längerem erklärt hatten, dass man nicht so eben mehr davon produzieren kann, weil es dafür ein gewisses Know-How brauche [spiegel.de]...
Ein Blick in den Spiegel hilft
Ein anderes Beispiel für diese vorschnelle Sicherheit ist Jens Spahn (CDU). Bis in den Herbst schloss er aus, dass man nochmal so weit gehen müsse wie im ersten Lockdown [bz-berlin.de]. "Man würde mit dem Wissen heute, das kann ich Ihnen sagen, keine Friseure mehr schließen und keinen Einzelhandel mehr schließen", sagte er. Schauen Sie auf Ihren Kopf - dann wissen Sie, wie gut das geklappt hat.
Vor wenigen Wochen versprach er, bis zum Sommer werde jeder in Deutschland ein Impfangebot bekommen [tagesschau.de]. Ob das so klappen wird? Angesichts der aktuellen Situation – bislang haben etwas über zwei Prozent der Bevölkerung eine Impfung bekommen [bmg.de] – erscheint das Versprechen zumindest alles andere als sicher.
Aber nicht nur Politikerinnen und Politiker, auch Medienschaffende gehören zur Gruppe der ungestüm Vorpreschenden. Die Studiendaten zur Wirksamkeit des Impfstoffs von Astrazeneca zeigen aktuell, dass es unter den Probanden, die über 65 Jahre alt waren gerade einmal zwei Erkrankungsfälle gab: einen in der Placebo-Gruppe, einen in der geimpften Gruppe. Es leuchtet ein, dass das viel zu wenig Daten sind, um irgendeine Aussage zu treffen. Oder wie es der Statistiker Christoph Rothe auf Twitter zusammenfasste: "Wir haben keinen blassen Schimmer" [twitter.com]. Trotzdem ließen es sich mehrere Medien nicht nehmen, zu behaupten, dass der Impfstoff bei Älteren kaum wirke - wenn in Wahrheit genau das schlicht ungewiss ist.
Falls jemand in der Grafik den Überblick verliert: die STIKO gibt für die Effektivität des AZ-Impfstoffes bei Ü65J ein Konfidenzintervall von 94,2% bis -1405% (genau: minus Eintausendvierhundertfünf Prozent).
— Christoph Rothe (@christoph_rothe) January 28, 2021
Also das statistische Äquivalent von "Keinen blassen Schimmer".
Und ja, auch wir bei rbb|24 haben in manchen Momenten dem Drang nach gefühlter Gewissheit nachgegeben. Sei es, weil wir davon ausgingen, dass sich mit der zunehmenden Mobilität die Infektionszahlen nach dem Lockdown ganz automatisch erhöhen würden - was sich zum Glück als falsch herausstellte, weil andere Faktoren eben auch eine Rolle spielen. Oder sei es die Ansicht, dass definitiv die Theater nicht schuld am Mehr der Infektionen seien – während die offiziellen Daten nur eines klar sagten: Man weiß eigentlich gar nicht, wie die Leute sich aktuell anstecken.
Während die Pandemie so viel in unserem Alltag verlangsamt, läuft die öffentliche Kommunikation heiß. Es wird sofort mitgeteilt und vereinfacht, weil der Wunsch nach Gewissheit und Klarheit groß ist. Innehalten? Abwarten? Sich klar werden? Fehlanzeige.
Stattdessen wird viel "gewillt". Heißt es nicht, dass der Glaube Berge versetzen kann? Es hat schon etwas Hollywoodhaftes, diese Mentalität von "Nimm viel Schwung, dann kommst du über das Hindernis - ganz egal wie hoch es ist." In Filmen, Serien und motivierenden Instagram-Posts, die wir in diesem Lockdown en masse konsumieren, mag das funktionieren. Doch an der Hürde der Pandemie-Realität bleibt man damit hängen.
Dem Virus sind kernige Behauptungen egal
Das Blöde ist nämlich: Viren haben kein Netflix und benutzen auch kein Social Media. Gerüchteweise zahlen sie noch nicht einmal Rundfunkbeitrag. Sie machen einfach das, was sie machen. Sich vermehren, sich anpassen und dabei immer unberechenbar bleiben - und damit auch die Situation für uns.
Hau-Ruck-Mentalität und vorschnelle Schlüsse werden der aktuellen Situation nicht gerecht und sie werden uns hier nicht herausbringen. Demut und lernen, mit dem Mehr an Ungewissheit umzugehen? Schon eher.