Nach der Wahl in Brandenburg - Was bedeutet eine Sperrminorität im Landtag?
Die AfD wird im kommenden Landtag mehr als ein Drittel der Abgeordneten stellen. Damit hält sie eine Sperrminorität. Politik machen lässt sich damit kaum. Denn dieser Mechanismus schützt etwas, das von vielen Rechtspopulisten kritisch betrachtet wird. Von Oliver Noffke
Kann eine Oppositionspartei die Arbeit der brandenburgischen Landesregierung beeinflussen oder sogar blockieren? Dem vorläufigen Endergebnis zufolge wird die AfD im nächsten Landtag 30 von insgesamt 88 Mandaten besetzen. Sollte sich das bestätigen, würde sie mehr als ein Drittel der Stimmen im Parlament halten – und damit die sogenannte Sperrminorität.
In der aktuellen politischen Diskussion entsteht hin und wieder der Eindruck, dass damit der Schutz von Ansichten oder Zielen von Oppositionsparteien gemeint sein könnte. Schließlich klingt das Wort so, als beschriebe es eine Minderheit, an der es kein Vorbeikommen gibt. Die Minderheiten, um die es dabei geht, sind allerdings rein mathematisch. Um politische Ansichten geht es nicht.
Sperrminoritäten in Parlamenten sollen keine Parteien schützen, sondern das Fundament von Staat und Demokratie: die Verfassung. "Das ist bewusst eingebaut worden, weil es Abstimmungen von unterschiedlicher gesetzlicher Tragweite gibt", erklärt Beate Harms-Ziegler. Sie war von 1993 bis 2009 Richterin am Landesverfassungsgericht in Potsdam, Professorin und betreibt eine Rechtsanwaltskanzlei in Berlin. "Darum besteht das höchste Quorum für Verfassungsänderungen."
Um das Grundgesetz oder eine Landesverfassung zu ändern, ist ein breiter Konsens notwendig. Schließlich garantieren diese Texte grundsätzliche Bürgerrechte und enthalten zudem die Regeln, die für einen fairen politischen Wettbewerb der Parteien aufgestellt wurden.
Einfache, absolute und qualifizierte Mehrheiten
Allgemein gilt in der Politik: Wer die absolute Mehrheit in einem Parlament hinter sich versammelt, kann regieren. 50 Prozent der Abgeordneten plus eins werden oft als "Kanzlermehrheit" bezeichnet. Denn der Kanzler oder die Kanzlerin muss von mehr als der Hälfte der Abgeordneten des Bundestags gewählt werden. Gleiches gilt für das Ministerpräsidentenamt in den Bundesländern.* Mit welcher Mehrheit Gesetze verabschiedet werden müssen, variiert hingegen.
Oft ist eine einfache Mehrheit notwendig; also mehr Stimmen dafür als dagegen. Enthaltungen fallen dann nicht ins Gewicht. Theoretisch könnten der Bundestag oder die Landtage in diesen Fällen eine Entscheidung treffen, wenn zwei Abgeordnete für einen Antrag stimmen und einer dagegen - falls sich alle übrigen enthalten oder gar nicht erst an der Abstimmung teilnehmen.
In anderen Fällen ist eine qualifizierte Mehrheit notwendig. Das heißt: Ein bestimmter Teil aller Parlamentsmitglieder muss zustimmen, damit ein Vorhaben umgesetzt werden kann. Dieses Quorum kann zum Beispiel bei mehr als 50 Prozent der Parlamentsmitglieder liegen. So wie bei der Wahl von Regierungschefs. In manchen Fällen ist die Hürde jedoch höher. Die brandenburgische Landesverfassung etwa schreibt für bestimmte Fragen eine qualifizierte Mehrheit von mindestens zwei Dritteln der Abgeordneten im Parlament vor.
Damit solle verhindert werden, dass eine Partei durchregieren kann, sagt Harms-Ziegler. "Man will damit sicherstellen, dass Verfassungen eben nicht zum politischen Spielball werden. Dass sie eben nicht nach Tagesform alle vier, fünf Jahre nach einer Wahl mal eben mit einer einfachen Mehrheit geändert werden können."
Die Verfassung schützt sich selbst
Dieses erhöhte Quorum muss meist dann überwunden werden, wenn Änderungen am Verfassungstext zur Abstimmung stehen. Aber auch, wenn die Verfassung indirekt betroffen ist. So müssen die Richterinnen und Richter am Landesverfassungsgericht von zwei Dritteln der Abgeordneten im Landtag gewählt werden.
Der Begriff Sperrminorität taucht hingegen weder im Grundgesetz [bundestag.de/gg] noch in der brandenburgischen Landesverfassung [bravors.brandenburg.de] auf. Der Mechanismus entsteht indirekt durch das erhöhte Quorum.
Hält eine Regierung zwar die absolute Mehrheit der Parlamentssitze, aber nicht mehr als zwei Drittel davon, kann sie also nicht alle Entscheidungen aus eigener Kraft herbeiführen. In manchen Fällen wäre sie auf Stimmen aus der Opposition angewiesen.
Im Umkehrschluss heißt das: Ist mehr als ein Drittel der Abgeordneten im Parlament gegen eine Änderung oder enthält sich, bleibt alles, wie es ist. Dann wirkt die Sperrminorität.
Ein Drittel des Parlaments repräsentiert nicht ein Drittel der Wählenden
Dass Regierungen auf Unterstützung aus der Opposition angewiesen sind, wenn sie die Verfassung ändern wollen, ist nicht ungewöhnlich. Im Gegenteil. Nur ein einziges Mal gab es in Brandenburg eine Koalition, die mehr als zwei Drittel der Abgeordneten stellte. Zwischen 1999 und 2004 entfielen auf die Regierung aus SPD und CDU zusammen 62 der damals 89 Sitze im Landtag. Das entsprach einem Stimmanteil von 69,66 Prozent. Alle anderen brandenburgischen Regierungen davor oder danach mussten die Opposition einbinden, wenn ein Quorum von zwei Dritteln erfüllt werden musste.
Sperrminoritäten an sich sind also keine Seltenheit. Doch bis jetzt hielt in Brandenburg noch nie eine Partei allein diese Macht.
Besonders nah kam dem die PDS nach der Landtagswahl von 2004. Die Vorgängerpartei von der Linken erhielt damals 29 von 88 Mandaten. Das entspricht einem Stimmanteil von 32,95 Prozent im Parlament. Dieser Fall ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen, weil die PDS das Drittel so knapp verfehlte. Auffällig ist aber auch, dass deutlich weniger als ein Drittel der Wählerinnen und Wähler tatsächlich für die Partei gestimmt hatten: nämlich 28 Prozent.
Im Fall der AfD ist es nun ähnlich. Laut dem vorläufigen Endergebnis hat sie 29,2 Prozent der Stimmen erhalten. Sie erhielt also deutlich weniger als ein Drittel der Stimmen von allen Wahlberechtigten, die sich beteiligt haben. Im kommenden Landtag wird die rechtspopulistische Partei nun allerdings 34,1 Prozent der Abgeordneten stellen. Und damit das Drittel überschreiten.
Dieser Unterschied entsteht, weil insgesamt 14,3 Prozent der abgegebenen Stimmen bei der Sitzverteilung keine Rolle spielen werden. Sie waren zwar gültig, gingen aber an Parteien, die nicht im Landtag vertreten sein werden. Das betrifft laut dem vorläufigen Resultat der Wahl 217.718 Stimmen [wahlergebnisse.brandenburg.de].
Auf die vier Parteien, die es in den Landtag geschafft haben – SPD, AfD, BSW und CDU –, entfielen hingegen insgesamt 1.286.264 Stimmen. Das ist der Kuchen, der nun zerteilt werden wird. Der Anteil der AfD daran beträgt 34,1 Prozent. An ihr vorbei werden in der kommenden Legislaturperiode deshalb keine Entscheidungen gefällt werden können, die in irgendeiner Weise die Landesverfassung betreffen.
Was bedeutet das?
Solange keine Änderungen am Text der Verfassung für notwendig erachtet werden, bedeutet dies erstmal wenig. Zumal das im Bund wie in Brandenburg relativ selten geschieht. Regierungen beginnen außerdem nur sehr ungern ernsthafte Diskussionen über solche Änderungen. Schließlich ist es oft mühsam, die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit zu organisieren.
Dass die AfD im Brandenburger Landtag nun allein die sogenannte Sperrminorität hält, ist deshalb hauptsächlich ein symbolischer Gewinn. Sollte sie – was sehr wahrscheinlich ist – nicht Teil der nächsten Regierung sein, wäre sie die erste Oppositionspartei in Brandenburg, der das gelungen ist.
Dennoch: Obwohl die AfD im Wahlkampf verfassungsfeindliche Forderungen propagiert hat; und obwohl der Landesverfassungsschutz einige Kader aus ihren Reihen als erwiesen rechtsextrem einschätzt: Eine Verfassungskrise sei die jetzige Situation nicht, erklärt Beate Harms-Ziegler. "Das ist ein politisches Problem. Und politische Probleme lassen sich nicht mit verfassungsrechtlichen Mitteln lösen."
Um ein weiteres Erstarken der AfD zu verhindern, müssten die übrigen Parteien die Wählerinnen und Wähler besser überzeugen, sagt sie. "Die Verfassung ist in ihrem Wesen fundamental uabhängig und kann nicht die Reparaturkolonne für die Politik sein", so Beate Harms-Ziegler.
In den kommenden fünf Jahren wird voraussichtlich am Landesverfassungsgericht kein Sitz neu besetzt werden müssen. Sollte allerdings der Fall eintreten, dass frühzeitig Neuwahlen notwendig werden, könnte die AfD das verhindern. Der Landtag kann sich nur auflösen, wenn mindestens zwei Drittel der Abgeordneten dem zustimmen. In diesem Fall wäre der Brandenburger Politikbetrieb tatsächlich blockiert.
*Bei der Wahl zur Bundeskanzlerin oder zum Bundeskanzler ist in den ersten beiden Wahlgängen eine absolute Mehrheit aus den Reihen der Abgeordneten des Bundestags notwendig. Ist ein dritter Durchgang notwendig, reicht eine einfache Mehrheit. Gewählt ist dann, wer die meisten Stimmen auf sich versammeln kann. Gleiches gilt bei der Wahl um das Amt des Ministerpräsidenten in Brandenburg und anderen Bundesländern.