
Der Absacker - Ich glaube, uns sind die Prioritäten verrutscht
Auf einmal werden fast überall die Maßnahmen gelockert. Sogar die Bundesliga läuft wieder an. Nur ob wir damit nicht viel riskieren und ob am Ende nicht die immer gleichen in die Röhre schauen, das fragt sich etwas bedrückt Haluka Maier-Borst
Irgendwie geht es mir die letzten Tage nicht gut. Und vielleicht haben mir ein paar Momente in den letzten Stunden geholfen, zu verstehen wieso. Da ist etwa ein Gespräch mit drei Forschern heute, von denen gleich zwei sagten, dass wir gerade wohl eine Chance verspielt haben. Dass wir wahrscheinlich die Neuinfektion weit gedrückt hätten, wenn wir ein wenig länger im Lockdown durchgehalten hätten. So weit, dass wir weitestgehend normal hätten leben können.
Aber selbst wenn die Forscher und ich uns irren und die Fallzahlen weiter niedrig bleiben, bleibt noch ein anderer fieser Beigeschmack. Der, dass die Lasten und Lockerungen dieser Krise ungleich verteilt sind. Und das hat die Kolumne der Kollegin Lisa gestern gut zusammengefasst. Natürlich verstehe ich, dass es hilft, wenn jetzt alle Geschäfte öffnen und Hochzeiten wieder stattfinden können. Aber dass die Bundesliga wichtiger ist als die Kinderbetreuung, das fühlt sich nicht gut an. Und das nicht erst seit dem Kalou-Video.
Jetzt, da ich ein wenig erahne, woher mein ungutes Gefühl kommt, fühle ich mich auch an etwas erinnert. Ganz kindlich an eine Geschichte von Janosch. Die, in der es dem Tiger bescheiden geht, der Bär ihn nach allen Kräften pflegt und lange nicht klar ist, was dem Tiger fehlt. Und sich nachher herausstellt, dass des Tigers Streifen verrutscht sind [youtube.com]. Nur dass es hier nicht meine Streifen sind, sondern unsere Prioritäten.
1. Was vom Tag bleibt
Ich habe jetzt viel über die Wirkungen der Lockerungen geschrieben. Aber ehrlich gesagt habe ich den Überblick über die ganze Fülle der selbigen verloren. Und während ich diese Zeilen schreibe, werden noch weitere Beschlüsse vom Berliner Senat gefasst. Falls Sie also nochmal schauen wollen, was geht und was nicht, dann bitte hier entlang für Berlin. Und hier für Brandenburg. Die Kollegen geben sich gerade sehr Mühe, diese Überblicke immer aktuell zu halten.
2. Abschalten.
Früher war das Zoom-Zoom-Feeling mal ein ungelenker aber irgendwie auch dadaistisch lockerer Werbespruch. Nun steht es dafür, dass ich langsam einen Videokonferenzen-Koller bekomme. Es ist Donnerstag und ich stehe schon bei sieben Schalten in dieser Woche. Und damit bin ich sicher noch gut bedient.
Insofern weiß ich nicht, ob mein Tipp zum Abschalten so heilsam ist. Aber mit Telling Lies [steampowered.com] gibt es ein Videospiel, bei dem man sich durch eine Reihe von Videoanrufen klicken muss, um die Geschichte hinter vier Menschen herauszufinden. Der Preis für das Krimispiel ist mit 17 Euro nicht gerade billig. Aber ich habe viel Gutes über das Spiel zum Beispiel beim New Scientist [newscientist.com] gelesen.
Und wenn Ihnen das alles zu verkopft ist, dann schauen Sie sich einfach die besseren Witze zum Regenerieren der Natur in Berlin, in Venedig oder anderswo an auf Instagram an.
3. Und, wie geht's?
Heute sind wir dran und als Gegenpol zu meinen Sorgen ist es wohl gut, diese Zeilen von meiner Kollegin Sabine zu lesen.
Ich bin nach exakt sieben Wochen Home-Office in dieser Woche erstmals an meinen Schreibtisch in der Redaktion vor Ort zurückgekehrt. Und ich fühle mich priviligiert. Ich habe - wenn auch über großen Abstand hinweg - Austausch mit meinen Kollegen vor Ort, die ich sehr vermisst habe. Außerdem komme ich überhaupt aus der Wohnung und erlebe dabei eine Art Normalität.
Jetzt wird mir erst richtig klar, wie klein und eng mein, unser aller, Leben in den letzten Wochen geworden ist. Auch wenn ich Angst vor einer zweiten Corona-Welle habe, freue ich mich doch auch über jeden Zipfel Normalität, den ich erwischen kann. Ich habe mir vorgenommen, vieles mehr zu schätzen im Alltag, wenn ich ihn endlich wieder zurückbekommen kann.
Wie erleben Sie denn die Lockerungen? Was machen Sie zum ersten Mal wieder? Und was lassen Sie noch sein? Schreiben Sie uns an: absacker@rbb-online.de
4. Ein weites Feld ...
Vor Wochen hatte ich mal gesagt, dass ich hier auch Leute zu Wort kommen lassen möchte, die mehr Erfahrung mit der Einsamkeit, mit der Isolation haben. Und heute ist mir das endlich gelungen. Es ist Sascha Bisley, der heute Autor und Sozialarbeiter ist, aber früher im Gefängnis saß. Wie nimmt er Corona wahr, hatte ich ihn gefragt.
Natürlich hat sich mein Leben stark verändert, seit dieser Virus auf diesem Planeten aufgetaucht ist. Meine Lesungen wurden abgesagt, die Seminare ebenso. An Termine in Schulen oder sozialen Einrichtungen und Gefängnissen ist nicht zu denken. Aber da ist ein Gefühl, dass ich am Anfang gar nicht definieren konnte. Scham. Ich schäme mich, diesen Umstand gar nicht so unangenehm zu finden, wie es sich gehört. Ich denke darüber nach, wie es mir bei meiner letzten unfreiwilligen Isolation ergangen war, wenn man das so nennen möchte.
1992 ging ich für eine schwere Gewalttat in Untersuchungshaft. Gerade 19 Jahre war ich alt, als ich vom Sondereinsatzkommando wegen versuchten Mordes in der Wohnung meiner Mutter verhaftet wurde, ins Gefängnis kam und dort auf 8,5 Quadratmeter darüber nachdachte, wie mein Leben und das meines Opfers jetzt aussehen werde, nachdem ich mich damit abfinden musste eine zehnjährige Haftstrafe zu kassieren. Es gab in meiner Zelle kein Wlan, kein Burger- und Sushi-Lieferservice, keine Skype-Sitzungen mit der Familie, auch keinen Sex.
Ich habe in den letzten Tagen des Öfteren zu Freunden am Telefon genau das gesagt. "Wenn man in Haft gesessen hat, kann man schwer nachvollziehen, wie Menschen nach zwei Wochen mit all diesen kleinen Leckereien und Freiheiten von einem Isolationskoller reden können, der ihnen so 'langsam' den Verstand raubt!" Und genau so ist es. Ich bin damals immer die gleichen drei Schritte in beide Richtungen gelaufen, drei vor, drei zurück, vom Fenster zur Tür, vorbei am Bett und am Klo. In Gedanken immer wieder die schrecklichen Dinge, die ich meinem Opfer angetan habe, der Wunsch, alles wieder rückgängig, zumindest aber bald wieder gut machen zu können. Heulkrämpfe ob der Schuld, der Scham, der Verzweiflung, solche Dinge getan zu haben und auch diese Situation des Freiheitsentzugs zu erleben. So muss es sich anfühlen, wenn man wahnsinnig wird, dachte ich - und nach Suizidversuch und Selbstgesprächen war ich gefühlt auch kurz davor.
Und jetzt? Jetzt binge ich die komplette 'The Walking Dead'-Serie durch, während ich Macadamia-Pretzel-Cookie-Eis in mich rein stopfe, gehe zwischendurch mit dem Hund im Wald spazieren. Ich schlafe neben meiner Partnerin ein, wache neben ihr auf, schreibe an meinem Laptop, trinke Whisky und Wein und erwische mich immer wieder dabei, wie ich denke: "DAS ist doch keine Isolation!" Das ist manchmal nervig und ja, auch etwas ungewohnt vom Ablauf her. Aber von so etwas wird man doch nicht verrückt.
Das ist Saschas Sicht. Mir bleibt nicht mehr viel zu sagen.
Bis morgen, bleiben Sie (möglichst) drinnen und Prost, sagt
Haluka Maier-Borst
14 Kommentare
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Nichts ist verrutscht, wir dürfen nur mal wieder Zeugen sein wie hier in Deutschland Politik gemacht wird, mehr soll das eigentlich gar nicht aussagen.
@Stein. Was geht Sie eigentlich die Länge meiner Kommentare an? Nichts! Und auch von Ihnen lasse ich mir mein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nicht beschneiden.
Ihr Kommentar war an "der anderen Stelle" schon daneben und wurde leider nicht besser. Verkürzen Sie Ihre Kommentare doch einfach auf: "Dieser Müller und der ganze Senat sind kacke." Das Beiwerk drumherum können Sie eigentlich sparen.
Ja genau richtig...so ist es...
Bis jetzt sind es 6 Kommentare. Ich stimme Nr. 1-3 und 6 vollständig und Nr. 5 teilweise zu.
Als Single habe ich mit dem ganzen Dilemma wenig Probleme. Aber - der Körperkontakt, vom einfachen Händeschütteln bis hin zur herzigen Umarmung fehlt mir doch sehr. Ich bin nicht ängstlich oder panisch, ich bin auch kein Virologe oder sonstiger Experte, wie so viel Kommentatoren hier auf rbb|24, möchte aber jedwedes Risiko einfach vermeiden.
"Aber scheinbar kann man sie mit nichts beruhigen, dann müssen sie eben weiter Angst vor einer zweiten dritten vierten oder fünften Welle haben, auch wenn diese nie kommen wird."
aber wenn sie doch kommt, hoffe ich, sie lernen daraus und kondolieren dann auch den Familien, deren Familienangehörige/r gestorben sind.
Das gilt jetzt bereits für all diejenigen, die noch vor nicht allzuvielen Wochen das Virus noch verharmlost haben, als die Datenlage bereits auf anderes hingewiesen hat. Aber was kümmert einen schon sein Geschwätz von gestern...
Eines liegt wohl klar auf der Hand. Unsere im Internationalen Vergleich so guten Zahlen und wenigen Toten rühren nicht von Lockerungen, Partys und "Leben, wie es mir gefällt, koste es was es wolle" und auch nicht vom Grundgesetz. Sondern eben vom Shut Down und der besonnenen Vorsicht der Mehrheit.
Ich interpretiere auch täglich Statistiken, und ich sehe ebensowenig akute Gefahren für weite Landstriche Deutschlands und weite Teile der Bevölkerung. Maskenpflicht halte ich nicht nur für unnötig sondern für hygienisch fragwürdig. Aber in Pflegeheimen müsste sie Vorschrift sein. Nur Kliniken und Pflegeheime bestücken unsere Akutfälle. Also alles entspannt.
Aber a) wohne ich tatsächlich im Hotspot Bereich mit div. Fällen um mich herum und b) möchte ich als Hotspot Bewohner endlich zum ungefährdeten Landkreis mutieren und meine Verwandten besuchen, die alt sind, ohne sie zu gefährden.
Statistiken sind super für die, die nicht ausgerechnet betroffen sind...
Ich schrieb schon an anderer Stelle das deutsche Sprichwort: "Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste". Aber das kennt der unfähige Müller-Senat wohl nicht. Wir sind ja schließlich in Berlin und BIG CITY Dorf.
Hallo Haluka,
ich teile Ihre Empfindungen. Danke auch für den Bericht von Sascha, den ich total nachvollziehen kann. Ich war zwar nicht im Knast, aber hab schon andere Dinge hinter mir, die diese Krise jetzt relativ "mild" wirken lassen. Sicher sieht das für jeden anders aus. Da sind die, die es jetzt sehr hart trifft - ob durch das Virus selbst, durch den Verlust eines Angehörigen, durch Bedrohung der Existenz usw.. Aber da sind auch die, die *eigentlich* nur wenig Belastung haben, diese aber bereits unerträglich finden, weil sie bisher von Krisen weitestgehend verschont waren und daher nicht wissen, wie sich Leben manchmal anfühlt...
Ich hoffe jetzt einfach mal, dass diese Lockerungen wirklich richtig sind. Um die wachsende Unruhe in der Bevölkerung wieder zu dämpfen, um zu zeigen, dass *alle* mit ihren Sorgen ernstgenommen werden.
Und wenn wirklich eine heftige 2.Welle kommen sollte, dann lernen wir neu... hoffentlich...
und werden trotzdem durchkommen.
Ja schon klar wir haben es verstanden sie haben Angst, unterhalten sich wahrscheinlich zu viel mit virologen und bringen hier wirklich nur die eine Sicht der Dinge und zwar die Angst und Panik Seite, jetzt auch noch mit nem Ex-Knacki, lol
Was sie in ihren einseitigen Betrachtung immer vergessen, dass es eben nicht nur die eine Krankheit, den einen Virus, den einen Teil des Lebens gibt, sondern ebend eine ganze Menge mehr und das muss alles unter einen Hut und nicht nur Corona!
Ich arbeite als Statistiker und habe auch viel mit Kollegen aus dem wissenschaftlichen und virologischen Bereich zu tun und ganz ehrlich unsere Zahlen sehen komplett anders aus.
Aber scheinbar kann man sie mit nichts beruhigen, dann müssen sie eben weiter Angst vor einer zweiten dritten vierten oder fünften Welle haben, auch wenn diese nie kommen wird.
super, so gut hat mir lange kein Absacker gefallen!
Mir geht es wie Sascha oder Haluka :-) die Isolation oder sagen wir, die Einsamkeit, hat mir wenig Sorgen bereitet. Das jetzige "mach dich mal locker"-Chaos schon.
Fragt mich mein Kind heute "Mama, dürfen die Zwillinge zu mir kommen?" - da musste ich beim rbb schauen gehen, ob das jetzt (schon) erlaubt ist, meinte mich an sowas wie "aus zwei Haushalten" zu erinnern und fragte allen Ernstes, ob die Zwillinge (15) aus einem Haushalt seien...
Nein, einen Lagerkoller hatte ich nicht. Ich werde gleich mailen, warum nicht. 1000 Zeichen sind wenig... nein, keinen Koller, alles im Griff, Abstand gehalten, keine Angst vor Viren außer aufm Rechner. Alles war gut. WAR.
Sollte eine Pessimisten-2.-Welle kommen, werde ich auch diese "Einsamkeit" gut überstehen (bis auf das Homeschooling!!!), auch meine alten Eltern, aber wir sähen uns gerne mal wieder. Diese Chance haben wir verpasst durch "mach dich mal locker.."
Lieber Herr Maier-Borst, vielen Dank für die offenen und kritischen Worte, die erstaunlicher Weise direkt vom @RBB kommen bzw. Verbreitet werden. Sie haben vollkommen Recht und ich stimme Ihnen vollkommen zu, dieses Land bzw die Regierung(en) sollten sich in Grund und Boden schämen. Die Bundesliga erlauben aber den Kindern nehmen. Ein Skandal! Aber Kinder haben, anders als es die Politiker immer predigen nunmal auch 2020 KEINE Lobby und interessieren keinen... Traurig traurig
Mir geht es auch so. Ich fühle mich ganz komisch unwohl, nachdem ich das ganze Durcheinander an Lockerungen gelesen habe. Ich habe den Durchblick verloren, das Verständnis, das Vertrauen zum Senat, das Vertrauen zu mir selbst, denn kann man selbst eigentlich noch irgendwas richtig oder falsch machen? Ich schätze, ich bin an einem Punkt der Resignation angekommen ...