Interview | Experte für Migrationsrecht - So ist die Rechtslage für Ukrainer, die nach Deutschland flüchten
Mit Kriegsbeginn in der Ukraine sind auch Fluchtbewegungen zu erwarten. Ukrainer dürfen visumfrei drei Monate in Deutschland bleiben - danach benötigen sie einen anderen Aufenthaltstitel, sagt Migrationsexperte Winfried Kluth.
rbb|24: Herr Kluth, möglicherweise werden nach Kriegsausbruch in der Ostukraine viele Menschen fliehen, einige auch nach Deutschland kommen wollen. Unter welchen Bedingungen dürfen Ukrainer:innen nach Deutschland einreisen?
Winfried Kluth: Nach derzeitigem Stand ist ein dreimonatiger Aufenthalt für Ukrainer in Deutschland ohne Probleme möglich. Für die Einreise in die EU – also zunächst zum Beispiel nach Polen – ist zwar grundsätzlich ein biometrischer Pass nötig, doch kann davon in einer solchen Lage abgesehen werden. Zudem handelt es sich aus deutscher Sicht ohnehin um eine Einreise über einen anderen EU-Mitgliedsstaat. Solange an der deutsch-polnischen Grenze keine Grenzkontrollen angeordnet sind, wäre eine Einreise nach Deutschland somit kein Problem.
Allerdings hilft den Ukrainern dieses dreimonatige Aufenthaltsrecht nicht weiter, wenn sie über einen längeren Zeitraum bleiben wollen. Um länger zu bleiben, müssten sie ein nationales Visum für einen längeren beantragen. In der besonderen Lage eines Krieges, die wir jetzt haben, haben wir auch besondere Rahmenbedingungen für die Einreise. Es ist jetzt nicht möglich, ein Visum zu beantragen, weil die deutsche Botschaft nicht arbeitsfähig ist.
Was greift denn jetzt für die Geflüchteten, wenn sie sich auf Grund des Kriegs nicht mehr um ein Visum bewerben können?
Dazu müssen wir uns einmal den Rechtsrahmen anschauen. Derzeit könnten die Ukrainerinnen und Ukrainer internationalen Schutz nach dem Asylgesetz beantragen, vor allem subsidiären Schutz. Dieser muss individuell beantragt und geprüft werden. Während des Verfahrens ist der Aufenthalt gestattet.
Es gibt für Fälle, in denen es zu einem Kriegsausbruch kommt und dann zur großen Flüchtlingsbewegungen, aber auch einen besonderen Rechtsrahmen auf europäischer Ebene, nämlich die sogenannte Massenzustromrichtlinie. Die hat die Europäische Union 2001 erlassen als Reaktion auf die Massenflucht aus Ex-Jugoslawien. Diese ermöglicht einen vorübergehenden Schutz für genau bezeichnete Personengruppen ohne Einzelfallprüfung von bis zu drei Jahren. Dadurch wird das Verfahren der Erteilung eines Aufenthaltstitels wesentlich beschleunigt.
Allerdings setzt das voraus, dass die EU diese Richtlinie auch aktiviert. Das ist bisher noch nie erfolgt, auch nicht bei der großen Flüchtlingswelle im Jahr 2015. weil bei der Aktivierung auch ein Verteilungsmechanismus beschlossen werden muss, der bestimmt, wie viele Flüchtlinge welcher Mitgliedsstaat aufnimmt. Darauf konnte man sich in der Vergangenheit nie einigen.
Die Bundesregierung hat bereits angekündigt, sich auf Geflüchtete vorzubereiten...
Deutschland kann auch eigenständig eine Regelung treffen, also ein Bundesaufnahmeprogramm. Da würde nach den gleichen Regelungen im Ergebnis auch ein vorübergehender Schutz für bis zu drei Jahre ermöglicht, ohne Individualprüfung. Und dann könnten alle Personen bestimmt werden, die in diesem Programm berücksichtigt werden. Also ob man alle Ukrainer oder nur aus bestimmten Landesteilen in diesem vereinfachten Verfahren aufnimmt.
Welche Hilfen könnte Deutschland anbieten?
Die Bundesregierung hat bereits angekündigt, dass man Polen bei der Flüchtlingsaufnahme unterstützt. Das könnte konkret bedeuten, dass Flüchtlinge nach Deutschland weiterreisen können und dann hier im Rahmen dieser Aufnahmeprogramme einen Aufenthalt für bis zu drei Jahre bekommen. Das ist schon ein sehr konkreter Rechtsrahmen. Aber noch ist nichts beschlossen.
Greift in diesem Fall nicht die Genfer Flüchtlingskonvention?
Bei der Genfer Flüchtlingskonvention reichen allgemeine Kriegsgefahren und die Flucht aus diesen Gründen alleine nicht für eine Anerkennung als Flüchtling aus. Dafür müsste dann eine politische Verfolgung bestehen. Die Konvention ist eben gerade keine Kriegs- sondern Verfolgungskonvention für Menschen, die durch den eigenen Staat verfolgt werden. Hinzu kommt nach europäischem Recht der subsidiäre Schutz, der sich auch auf die allgemeinen Gefahren erstreckt. die insbesondere von Bürgerkriegen ausgehen.
Wenn jetzt zum Beispiel das Gebiet der Ukraine ganz oder teilweise durch russische Truppen besetzt ist oder die unter Kontrolle von Separatisten gerät, dann könnten in bestimmten Fallkonstellationen entsprechende Verfolgungen vorliegen und somit die Schutzmöglichkeiten greifen.
Was bräuchten also die ukrainischen Geflüchteten?
Der Mechanismus der Massenzustromsrichtlinie könnte durch eine Bundesaufnahmeprogramm schnell national umgesetzt werden. Das würde die Vorgehensweise vereinfachen.
Die vor den Kriegsgefahren flüchtenden Menschen können vergleichsweise unbürokratisch und einfach aufgenommen werden, unter Umständen im Rahmen eines bestimmten Kontingents. Es ist aber zunächst abzuwarten, wie groß der Ansturm sein wird und ob zum Beispiel Polen um Unterstützung bittet. Dann wird sicherlich sehr zeitnah die weitere Vorgehensweise durch die Bundesregierung geklärt werden.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Jenny Barke.
Sendung: Inforadio, 24.02.2022, 16:05 Uhr