Tagebuch (7): Ukraine im Krieg - "Man konnte zur Kochstelle laufen, umrühren und sich wieder verstecken"
Tanja ist eine erfahrene Kriegskorrespondentin. Über Wochen ist sie im belagerten Mariupol eingeschlossen. Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit den Menschen in der Ukraine - und berichtet darüber in diesem Tagebuch.
Die Regisseurin Natalija Yefimkina lebt in Berlin, sie hat ukrainische Wurzeln. Seit Beginn des Kriegs hält sie Kontakt zu vielen Menschen vor Ort. In diesem Tagbuch berichtet sie darüber, wie es den Menschen in der Ukraine geht, aber auch, was die Situation mit ihr macht.
Donnerstag, 14. April 2022, Berlin
Ich habe aufgehört, Briefe von Behörden zu beantworten. Ich muss mich zwingen, sie überhaupt zu öffnen. Meine Film-Projekte liegen auf Eis. Aber wenn eine ukrainische Verlegerin, Großtiere aus Charkiw rettet und Kontakte in Berlin sucht, eine ukrainische Friseurin ihre Berliner Retter nicht versteht oder ein Photograph ukrainische Künstler sucht, dann bin ich da. Ich regele, vermittle, schreibe Anträge. Hier kann ich schnell und gezielt helfen.
Zum ersten Mal wird mir klar, wozu ich so viele unterschiedliche Menschen kenne. Dieses schnelle Glück vom Helfen trägt einen über die Ohnmacht hinweg, täuscht aber eine falsche Realität vor.
Mehrere Tage lang telefoniere ich mit niemandem in der Ukraine - und mir geht es von Tag zu Tag schlechter. Nach den Fotos von Butscha bin ich wie gelähmt, ich liege nachts im Bett und realisiere, dass ich den ganzen Tag nichts gemacht habe und dass es genau das ist, was nicht sein darf.
Doch dann telefoniere ich mit Tanja, einer Kriegskorrespondentin, und das ist wie eine Erdung. Es ist das Wichtigste, was ich diese Woche getan habe. Tanja erreiche ich über andere Journalisten, wir verabreden uns zum Gespräch. Während Tanja redet, schreit im Hintergrund ihre dreijährige Tochter.
Ich bin 45 Jahre alt, Journalistin. Ich habe als Kriegskorrespondentin gearbeitet und war auf die Region um Donezk spezialisiert, direkt an der Frontlinie. Mein Sohn ist 22 Jahre alt und befindet sich gerade im okkupierten Gebiet. Ich habe ein kleines Mädchen, sie ist drei Jahre alt. Mein Mann ist auch in der Donezk-Region und führt Kampfeinsätze für die Armee aus.
Warum ist Ihr Sohn im okkupierten Gebiet?
Er hat es erst nicht geschafft, aus Mariupol rauszukommen. Später ist er da rausgekommen, aber ich werde nicht sagen, wo genau er sich befindet. Jedenfalls ist er in dem Gebiet, das nicht von der Ukraine kontrolliert wird.
Das ist doch sehr gefährlich!
Ja, natürlich, aber er kann nicht raus. Es werden leider nur Menschen Richtung Russland rausgelassen, aber nicht Richtung Ukraine. Er lebte ja schon mit seiner Freundin zusammen, Sie können sich nicht vorstellen, aus welcher Hölle wir rausgekommen sind. Wir wussten 20 Tage lang nichts voneinander, denn schon seit dem 2. März gab es in Mariupol keine Elektrizität mehr. Aber das Wichtigste, es gab keinen Empfang. Für mich als Journalistin war das Schlimmste, dass ich überhaupt nicht erfahren konnte, was geschieht.
Mein Informationskreis beschränkte sich auf den Keller, in dem wir mit meiner Tochter die ganze Zeit über saßen. Nur über Geräusche konnte ich verstehen, wann Angriffe kommen. Mehr bekam ich von dem, was in Mariupol passierte, nicht mit. Wir haben im alten Zentrum von Mariupol gewohnt, in der Altstadt. Im wunderbaren Mariupol.
Wenn ich ehrlich bin, ich bin gebrochen. Ich sehe physisch anders aus als noch im Februar. Vor dem Einmarsch der russischen Armee war ich auf dem Höhepunkt meiner physischen Form. Ich habe in den Spiegel geschaut und konnte wirklich im Bikini auftreten. Jetzt wiege ich bei einer Größe von 1,70 m nur noch 48 kg. Ich bin ausgemergelt, verstehen Sie, ich bin einfach ausgelaugt, physisch, aber in erster Linie psychisch. Faktisch hat Russland, haben die Russen in diesem Monat die Menschen in Mariupol zerstört. Und sie haben das mit Absicht gemacht.
Als Kriegskorrespondentin, die an der Front war, weiß ich, was Krieg ist, was es heißt, unter Artillerie-Beschuss zu stehen, was Panzer und Granatwerfer sind. Aber was die Kampfjets machen, die nichts mehr von den Häusern übriglassen, ist das Schlimmste. Das ist so eine Angst, so ein Horror und das machen die dort gezielt.
In zwei Nächten haben sie die Straßen nicht einfach zerstört, sondern komplett von der Erdoberfläche getilgt. Die Kampfjets schossen ihre Raketen erst alle 15 Minuten ab, dann alle Fünf Minuten. Mein Kind, hat zwei Tage nichts gegessen, gar nichts, überhaupt nichts hat sie gegessen.
Wir haben den ganzen Monat das Essen auf einem Feuer vorm Haus gekocht. Erst schafften wir das mit hin und her laufen, denn das Feuer war nur drei Meter von unserer Eingangstür entfernt. Man konnte zur Kochstelle laufen, umrühren und sich wieder im Keller verstecken, dann wieder hin, umrühren und zurück.
Aber dann gab es nicht mal mehr diese Möglichkeit. Wir waren richtig hungrig. Zwei Tage wurde heftig bombardiert. Die Nachbarn nebenan sind schließlich doch rausgegangen, um sich was zu kochen. Dort schlug sofort eine Rakete ein und zehn Menschen sind gestorben. Gleichzeitig.
Ich weiß nicht, wie viele Menschen umgekommen sind in Mariupol. Man spricht von 20.000, aber ich denke, dass ist die minimalste Ziffer, diese 20.000.
Um neun Uhr morgens, flog eine Rakete in mein Haus. Es war am 20. März, davor waren wir die ganze Nacht bombardiert worden. Als die Rakete einschlug, saßen wir gerade im Keller und packten mit Sophia unsere Sachen, Dokumente und sowas, für den Fall, das wir raus müssen.
Tanja stockt am Telefon
Als sie einschlug, rieselte sofort Staub und Putz von der Decke. Die Rakete durchschlug das Nachbarhaus, das Haus, was hinter unserer Küche liegt. Von meinem Haus blieb nur ganz wenig übrig, nur ein Teil vom Wohnzimmer, der Flur und das Bad, das wars.
Von dem anderen Haus blieb nur Staub, es gab nichts mehr, was an ein Haus erinnerte, nur ein Haufen Staub. Und ich wusste ja, dass dort Menschen waren, weil sie einen Generator benutzt hatten, bis zuletzt.
In einer der Wohnungen über mir sind drei Menschen umgekommen und meine 94-jährige Nachbarin, die den zweiten Weltkrieg überlebt hat. Als alles anfing, fragte sie mich mal, Tanja, was sind das für Geräusche? Sie hat schlecht gehört, aber diese Explosionen konnte sie spüren, obwohl sie damals noch nicht so nah waren. Ich sagte ihr, Ewdakija Wasiljewna, das ist Krieg. Und sie sagte: Was, sind die Faschisten wieder zurückgekehrt? Und ich sagte zu ihr, ja, sie sind zurück.
Sie sind nicht einfach Faschisten, ich glaube, nicht mal Faschisten haben sowas getan, wie die Russen mit uns umgehen.
Dabei bin ich doch selber Russin. Und mein Mann ist Weißrusse. Wir hatten 20 Tage keinen Kontakt, 20 lange Tage. Als wir aus der Gegend herauskamen, die bombardiert wurde, und unser völlig zerstörtes Haus verlassen konnten, konnte ich ihn endlich erreichen. Er hat so geheult, obwohl er Soldat ist und ein starker Mensch. Ein sehr starker. So geheult.
Wie viele Menschen haben ihre Angehörigen verloren. Wie soll man weiter ohne sie leben? Ich sage Ihnen noch mehr: Ich mache mir keine Sorgen um die Wohnung, aber ich habe meinen Hund dort gelassen, ich konnte ihn nicht mitnehmen. Und das ist für mich..
Ich höre, wie sie mit den Tränen kämpft
… das ist für mich der treuste Freund gewesen, er war vier Jahre bei uns, mein Mann hat ihn von der Front mitgebracht. Er ist ein einfacher Streuner, aber er war der beste Hüter. Ich habe es nicht geschafft, ihn herauszuholen, ich habe es einfach nicht geschafft. Ich war so durcheinander, als die Kampfjets flogen, und ich musste meine Tochter da rausholen. Das Materielle hat für mich keine Bedeutung mehr, ich weiß nur, dass ich meinen treuen Rüden verraten habe und ich werde niemals diese Augen vergessen.
Das alles ist schwer zu erzählen. Ich hatte kein reales Verständnis von dem, was passiert ist. Von den ganzen schrecklichen Sachen, wie dem Theater von Mariupol, habe ich erst später gehört als ich draußen war. Ich habe erfahren, wie viele Menschen ich von meinen Freunden in der Armee verloren habe, die versucht hatten, nach Mariupol durchzukommen.
Das sind so furchtbare Sachen, die ich erst am 21. März erfuhr, einem der schlimmsten Tage für mich. Der 20. März ist der Tag, als ich mit Sophia überlebte, ich finde, das ist unser zweiter Geburtstag. Sophia ist meine dreijährige Tochter. Und der 21. März ist ein schlimmer Tag, weil ich da ganz viele tragische Neuigkeiten über meine Freunde erfahren habe, die gefallen sind.
Jetzt haben wir uns in Tscherkassy niedergelassen, ich arbeite hier für den Notdienst des Donezker Gebiets in der Presseabteilung. So ist das. Ich weiß nicht, wann ich meinen Mann sehe, und wann Sophia ihren Vater sieht, weil er in der Armee ist. Aber ich verstehe, dass es nicht bald sein wird. Man wird uns einfach nicht in Ruhe lassen.
Die Aufhebung der Blockade von Mariupol - das ist jetzt die Hauptsache. Wenn wir genug Kampfjets und Luftabwehrraketen gehabt hätten, dann hätten wir tatsächlich keine solche Situation gehabt. Und alle wussten es. Denn die Russen suchen sich die schwächste Stelle. Und die schwächste Stelle sind wir, die Zivilisten.