Tagebuch (17): Ukraine im Krieg - "So leben wir seit neun Monaten und beschweren uns nicht"
Oksana ist Professorin für Ökonomie. Eigentlich. Seit Kriegsbeginn dient sie freiwillig als Rettungssanitäterin. Natalija Yefimkina spricht in ihrem Kriegstagebuch mit Oksana über den Alltag an der Front – und den Dauerbeschuss der Stadt Bachmut.
Natalija Yefimkina: Heute bekam ich eine E-Mail von einer Filmförderanstalt zu meinem Filmprojekt in der Ukraine. Das Projekt hatte ich vor dem Krieg angefangen zu recherchieren und hatte dazu auch schon erste Bilder in Kiew gedreht, dann kam der Krieg. Meine Produktionsfirma schrieb einen Abschlussbericht, dass das Drehen in der Ukraine wegen des Krieges unmöglich sei und auch auf absehbare Zeit nicht damit zu rechnen sei.
In der E-Mail schreibt nun die Frau von der Filmförderung, es fehle noch eine ausführliche projektgerechte Beschreibung (mind. 40 Seiten) mit umfassender Darstellung der Handlung und Protagonisten sowie konkretisiertem visuellen und dramaturgischen Konzept samt einem konkreten Produktionsplan (zeitlich, finanziell und organisatorisch). Bei Fragen könne ich mich bei Ihr ab dem 29.12. melden, bis dahin sei sie im Urlaub.
Ich erreiche Oksana und bitte Sie sich vorzustellen.
Ich heiße Oksana Chernaja. Ich bin 42 Jahre alt und diene als Rettungssanitäterin in der 57. Brigade.
Was haben Sie vor dem Krieg gemacht, Oksana?
Ich bin Universitätsprofessorin für Wirtschaft und habe als solche im Oman an der Universität Maskat gearbeitet.
Wie hat der Krieg für Sie angefangen?
In den Nachrichten ging am 24. Februar die Information um, dass um 5 Uhr morgens der Beschuss eingesetzt hat. Da traf ich die Entscheidung, in die Ukraine zurückzukehren. Im Prinzip ist das logisch, denn jemand muss das Land ja beschützen. Am 5. März war ich bereits in der Ukraine und dann habe ich mich in die 57. Brigade einberufen lassen und diene seither hier.
Hatten Sie bereits vorher in der Armee gedient?
Ja, vom Juli 2015 bis November 2016 war ich in der 28. Brigade als Krankenwagenfahrerin tätig.
Dann ist das Ihre zweite Ausbildung?
Nein, ich habe keine medizinische Ausbildung in dem Sinne, nur Kurse, die alle machen müssen. Im Prinzip kann jeder Mensch dienen, der das möchte. Vor Ort wird ihm dann alles beigebracht.
Können Sie mir sagen, wo Sie sich jetzt befinden? Und wie sieht ihr Alltag aus?
Ich befinde mich in Bachmut. Und wie der Tag so aussieht?… Wir stehen die ganze Zeit unter Beschuss und machen bestimmte Aufgaben, die von der Situation abhängen, die gerade vorherrscht: Evakuierungen, Krankentransporte, abhängig davon, was gerade an der Front geschieht.
Aber man sagt, dass in Bachmut die Situation ganz schlimm ist…
Ja, sehr schwierig, aber kontrollierbar. Schon davor gab es schwierige Situationen. Im Prinzip ist es so wie an anderen Frontabschnitten, an denen meine Brigade war.
Ihre Brigade, was heißt das? Ist das eine medizinische Einheit oder ein Teil der Armee?
Das ist Militär. Eine Brigade ist eine Militäreinheit, die aus Bataillonen besteht und die einen bestimmten Abschnitt der Front verteidigt und dort kämpft.
Und Sie haben Ärzte und Sanitäter?
Die Brigade verfügt über eine Sanitätskompanie, die den Stabilisierungspunkt versorgt und dessen Evakuierung betreut. Jedes Bataillon verfügt über eine eigene Sanitätseinheit, die unabhängig von der Personalstärke aus Ärzten, Sanitätern, Krankenwagenfahrern, Mechanikern und einfachen Sanitätern besteht, die für die Evakuierung von der Frontlinie zum Stabilisierungspunkt zuständig ist.
Und Sie haben dort Netz? Man sagt doch, nach Bachmut gibt es überhaupt keine Verbindung?
An allen strategisch wichtigen Punkten haben wir Starlink. An wenigen Stellen gibt es auch Netz, aber im Großen und Ganzen gibt es in Bachmut kein Netz mehr.
Leben dort noch Menschen?
Ja, es gibt Zivilbevölkerung und ich würde sagen sogar ziemlich viele.
Aber wie ist die Situation dort, ist es nicht völlig zerstört?
Schon davor wurden alle Städte zerstört, in denen wir gekämpft haben. Toschkiwka, Nowotoschkiwka, Sjewjerodonezk, Lyssytschansk oder die Offensive auf Cherson – es war überall das Gleiche: Alle Städte und Dörfer auf ihrem Weg wurden zerstört, Davydov Brod, Snihuriwka, Bezimenne. Sie zerstören alle Städte, eine nach der anderen. Jetzt ist Bachmut dran.
Aber was ist mit den Menschen, wollen sie nicht gehen? Oder lassen sie sich nicht evakuieren oder sind es alte Menschen?
Еs ist die Entscheidung der Menschen. Sie können dort sein, wo sie wollen. Wir können uns nicht einmischen, können sie nicht zwingen. Wenn sie verletzt sind, können sie sich an uns wenden. Wir evakuieren sie dann bis zum Stabilisierungspunkt. Das ist alles, was wir tun können.
Und, Oksana, haben Sie Familie?
Ja, hab ich.
Kinder?
Nein.
Mann?
Ja. Er dient auch.
Erzählen Sie mir, was besonders schwer ist?
Es ist schwer zu sagen, was konkret schwer ist. Es gibt große Verluste, sehr viele Freunde kommen um, werden verletzt… Die ständigen Feuergefechte… ich verstehe nicht richtig… alles ist schwer: Es gibt nichts, kein Wasser, keine Elektrizität, unter solchen Bedingungen leben wir ...
Woanders beschweren sich die Menschen, dass sie 24 Stunden kein Licht haben und sie ohne Wasser sind, so leben wir seit neun Monaten und beschweren uns nicht.
Was heißt ohne Wasser?
Wir haben keine Badezimmer. Die Soldaten leben in den Schützengräben, Unterständen, in zerstörten Gebäuden. Sie haben keine Heizung, keine Elektrizität, kein Wasser und es gibt kein Netz.
Nur wenn man Starlink aktiviert und einen Ofen aufstellt, wird es warm und es gibt Netz und der Generator gibt einem die Möglichkeit, das Handy aufzuladen ...
Wo leben Sie? Wie sieht Ihr Alltag aus?
Im Moment in einem Kellerraum, was dafür sorgt, dass wir bei Beschuss nicht direkt getroffen werden können und uns das Überleben ermöglicht.
Je nach dem, von wo wir die Verwundeten holen müssen, begeben wir uns an verschiedene Positionen. Das können Unterstände sein, Gebäudekeller, Rohre, die unter Brücken verlaufen - je nachdem, wohin sich die Evakuierungsmannschaft für den Bereitschaftsdienst oder um die Verwundeten zu holen begibt. Das hängt alles von der Situation ab.
Gab es schon mal eine Situation, wo Sie um Ihr Leben fürchten mussten?
Das ist ständig der Fall, alles steht unter Beschuss. Beim letzten Kampfeinsatz wurden vier unserer Autos zerstört und einer der Ärzte verletzt. Wir werden ständig beschossen - das ist Krieg. Jeden Tag fliegen Minen, Granaten, Geschützfeuer.
Wir sind das Bindeglied, das die Verletzten bis zum Stabilisierungspunkt bringt, vielleicht haben Sie Aufnahmen von diesen Punkten in Bachmut gesehen und wie man dort operiert. Wir bringen ihnen die Verletzten.
Also sind Sie in den gefährlichsten Orten und führen die gefährlichste Arbeit durch?
Nein, die gefährlichste Arbeit machen die Soldaten, die an der Frontlinie in den Schützengräbern sitzen. Vor allem die bekommen diese Verletzungen. Wir transportieren sie dann ab.
Schwer sich vorzustellen, wie man das alles in sich aufnehmen kann und das über eine so lange Zeit…
Neun Monate bereits.
Wie wollen Sie später zurück ins normale Leben finden?
Weiß ich nicht. Sobald ich zurückkehre, werde ich es Ihnen erzählen (lacht)
Aber was motiviert Sie?
Wir haben keine Wahl. Wir können ja nicht umdrehen und Nachhause gehen. Wir müssen kämpfen oder sie töten uns alle.
Bachmut ist aber schwer gerade?
Es wird sehr viel Wirbel um die Stadt gemacht, alle reden darüber. Aber in Sjewjerodonezk, in Lyssytschansk und in der Nähe von Kiew war es die gleiche Situation. Nach dem, was ich sehe, war der Grad der feindlichen Aktivität ähnlich.
Die Angriffe variieren, der Beschuss auch. Aber wenn sie uns hinaus treiben aus der Stadt, töten sie dort Menschen und zwar ziemlich aktiv. Es ist wie in allen Städten und Dörfern, die wir verloren haben.
Wie kommen Sie psychisch mit dem allen zurecht?
Wie meinen Sie das?
Reden Sie mit jemandem? Was machen Sie, damit es nicht so schwer ist?
Nichts macht man. Es gibt eine bestimmte Arbeit, die gemacht werden muss. Und wir alle machen diese Arbeit.
Ja… das ist ein Wahnsinn.
Krieg ist überhaupt nichts Gutes. Aber wir haben keine Wahl.
Gibt es viele Frauen an der Front?
An vorderster Front sind es sehr wenige. Frauen sind vor allem in der Logistik, im Aufbau, im Finanzwesen aktiv. Sie arbeiten als Psychologinnen und in den medizinischen Abteilungen als Krankenschwestern. In der Krankenstation bei uns gibt es eine Ärztin. Aber an vorderster Front sind nur sehr wenige, dort sind vor allem Männer.
Also sind Sie eine der wenigen?
Ich kenne die Zahlen nicht, aber ich denke ja.
Ist Ihr Mann bei Ihnen?
Nein, er dient in einer anderen Einheit.
Dann sehen Sie sich ja auch nicht… Was fehlt Ihnen an der Front?
Pickups, die einfachsten, also gebrauchte, weil sie als erstes bei Beschuss zerstört werden. Mit ihnen werden Kampfausrüstungen gebracht und Verletzte abtransportiert. Man kann Verpflegung bringen und Soldaten zu ihren Positionen fahren. Ja, Pickups, das ist das was fehlt.
Können Sie mir noch sagen, wo Sie sich genau in diesem Moment befinden?
In Bachmut.
Aber in welchem Raum? Wie sieht es aus?
Das ist ein Halbkeller, wie soll ich das beschreiben? Ich kann Ihnen ja nicht die Adresse sagen.
Sendung: rbb24 Inforadio | 22.12.2022 | 17:26 Uhr