Tagebuch (27): Ukraine im Krieg - "Wo soll man denn hinziehen? Alles ist unsicher"

Sa 24.02.24 | 15:30 Uhr
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Dana vor der ausgebrannte Wohnung in Kiew (Quelle: rbb/Natalija Yefimkina)
Bild: rbb/Natalija Yefimkina

Zwei Jahre nach Beginn des Kriegs in der Ukraine fährt Natalija Yefimkina nach Kiew. Sie will wissen: Wie sieht es dort nach den Raketenangriffen aus? Wie halten die Bewohner das aus. Auf der Reise lässt sie sich von vier Menschen schildern, wie der Krieg ihr Leben verändert hat.

Natalija Yefimkina: Mein einziger Neujahrswunsch ist es, im Jahr 2024 wieder nach Kiew zu fahren. Seit zwei Jahren bin ich nicht mehr in meiner Heimatstadt gewesen. Es fühlt sich so an, als wäre Kiew ein guter Freund, den ich in Not vernachlässigt habe.

Seit dem russischen Überfall - am 24. Februar 2022 - lerne ich Ukrainisch, online. Als ich mit zwölf Jahren nach Deutschland kam, wo meine Mutter als Wissenschaftlerin arbeitete, sprach ich kaum Ukrainisch. Wie viele in Kiew sprach meine Familie russisch. Nun habe ich Angst, dass mein Ukrainisch für eine Reise noch zu schlecht sein kann.

Fliegen kann man nicht. Eine Bahnfahrt zu organisieren ist aber einfacher, als ich zuerst gedacht habe. Mit der Bahn fahre ich durch ganz Polen nach Przemyśl, eine kleine Stadt an der Grenze zur Ukraine. Der Krieg hat diesen Ort bekannt gemacht. Die Fahrt bis Przemyśl dauert zehn Stunden. In Przemyśl muss ich umsteigen, die Grenzkontrolle passieren und mit einem ukrainischen Intercity nach Kiew weiterfahren. Insgesamt fährt man 24 Stunden.

Ich packe einen kleinen Rucksack, keine Geschenke, nehme mir sechs Tage frei und begebe mich auf den Weg in meine Heimat, wo nichts mehr so ist wie vorher.

In dem Zug sitzen zuerst fast nur Menschen aus Polen. In Krakau steigt ein ärmlich wirkendes und sehr müde aussehendes älteres Paar zu. Die beiden sprechen Russisch und fragen mich ob ich auch Ukrainerin bin. Wir kommen ins Gespräch.

Zur Person

Die Regisseurin Natalija Yefimkina (Quelle: Lucia Gerhardt)
Lucia Gerhardt

Natalija Yefimkina lebt in Berlin. Sie ist in Kiew aufgewachsen. Nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl zog die Familie zunächst nach Sibirien, in den 1990er Jahren dann nach Deutschland. Yefimkina arbeitet als Filmemacherin.

Lida: Wir kommen gerade aus Krakow und kehren zurück nach Charkiw. Wir waren noch nie im Ausland, das ist unser erstes Mal. Wir waren zwei Tage in Krakow und vor drei Tagen sind wir aus Charkiw losgefahren.

Das heißt, Sie sind zum ersten Mal im Ausland?

Sascha: Ja, so ist es. Wenn man Georgien nicht mitzählt - dort waren wir, als es die Sowjetunion noch gab. Auch im Baltikum waren wir und in Belarus habe ich als Offizier in der Armee gedient.

Und wie war die erste Auslandsreise?

Lida:
Draußen ist es sehr schön. Aber wir hatten nicht so viel Zeit und kalt war es auch. Aber wir haben uns ein wenig umgeschaut.

Und warum so kurz?

Sascha: Wir mussten in die US-amerikanische Botschaft, um ein Visum zu machen. Unser Sohn und unser Enkel sind in den USA. Sie haben eine Greencard gewonnen.

Eine Greencard gewonnen? Einfach in einer Lotterie?

Lida: Ja, sie haben es immer wieder versucht, fünf Jahre lang, und vor dem Krieg hat es endlich geklappt.

Interessant, ich kenne wenige Leute, die eine Greencard gewonnen haben. Und so sind Sie jetzt hingefahren, um ein Visum zu bekommen?

Lida: Ja, um wenigstens einmal hinzufahren, um sie zu besuchen.

Ja, denn das Kind wächst ja. Und Sie sehen es überhaupt nicht.

Sascha: Ja, schon seit zwei Jahren nicht mehr. Wir kommunizieren über das Telefon…

Lida und Sascha vor unserem Zug in Kiew (Quelle: rbb/Natalija Yefimkina)
Sascha, Lida und Natalija in Kiew.Bild: rbb/Natalija Yefimkina

Sie sagen, dass Sie immer noch arbeiten?

Lida: Sascha war Chefingenieur der Abteilung und ich Chefingenieurin des Werks der Chakiwer Universität für Raum- und Luftfahrt. Jetzt sind wir Rentner, aber unsere Rente reicht nicht für das Wohngeld der beiden Wohnungen [ihre und die von ihrem Sohn] aus, also arbeitet Sascha als Hausmeister und ich putze die Hausflure in Mehrfamilienhäusern.

Ein Zug donnert vorbei. Lida erschreckt sich, fährt zusammen. Sie sagt, es sei die Folge von dem Beschuss in Charkiw.

Sascha: Da, wo wir jetzt in Krakau gewohnt haben, war in der Nähe des Hotels eine Baustelle, und da gab es immer wieder Krach.

Und Sie schrecken immer wieder hoch?

Sascha: Ja, natürlich.

Warum sind Sie dann so kurz hier? Sie könnten sich doch etwas erholen?

Lida: Nein, das hat doch unser Sohn bezahlt: das Hotel, die Fahrt, alles.

Und Sie wollen nicht wegfahren? Denn es macht einen doch fertig, oder?

Lida: Ja, natürlich macht es einen fertig: der ständige Luftalarm, dreimal in der Nacht. Du fährst hoch und weißt nicht, wohin du rennen sollst.

Und wo versteckten Sie sich?

Lida: Wir verstecken uns nicht. Man kann in den Flur gehen, dort gibt es zwei tragende Wände, und - wenn es Gott verhüte - die Bombe ins Haus einschlägt, dann hat man vielleicht durch die zwei tragenden Wände Schutz.

Und wie ist die Situation in Charkiw jetzt?

Lida: Wie es so heißt: Charkiw lebt und arbeitet! [Sie zitiert einen ukrainischen Ausspruch]. Die Metro ist voll, und die Menschen fahren zu Arbeit.

Aber es war doch sehr hart, nicht? Sogar in Kiew.

Sascha: Am 29. und am 31. Dezember haben sie uns Furcht eingejagt.

Lida: Am 29. Dezember waren es 22 Raketen und am 30. waren es sechs oder acht. Aber am 31. Dezember war dann nicht mehr viel. Erst wieder am 2 Februar.

Sascha: Das neue Jahr haben sie uns feiern lassen…

Aber viele Raketen werden doch abgeschossen?

Lida: Nein. Die S300 können sie nicht abschießen, sie kommen ja von ganz nah - aus Belgorod fliegen sie ja nur eine Minute.

Lida kann sich kaum bewegen, so sehr tut ihr der Rücken weh. Als wir in Przemyśl ankommen, zeigen sie mir einen Stand, wo es für Ukrainer kostenlosen Kaffee gibt. Ich versuche nicht zu sprechen, um mein schlechtes Ukrainisch zu verbergen.

Dann stehen wir 1,5 Stunden in der Schlange der polnischen Grenzkontrolle, sie lassen uns warten. Es sind fast ausschließlich junge und alte Frauen und Kinder. In dem Zug nach Kiew sitze ich in der ersten Klasse, mein Vater hat das Ticket für mich gekauft und es gut gemeint. Die Durchsage warnt vor der Kriegssituation im Land. Es gehen bewaffnete Grenzpolizisten durch. Ein Cockerspaniel schnüffelt das Gepäck nach Sprengstoff ab. Neben mich setzt sich ein junger Amerikaner, ich frage ihn nach seinem Namen.

Josh Cook sitzt in einem Zugabteil. (Quelle: rbb/Natalija Yefimkina)
Josh Cook im Zug.Bild: rbb/Natalija Yefimkina

Josh: Mein Name ist Josh Cook, ich bin 25 Jahre alt und lebe seit zwei Jahren in der Ukraine. Den letzten Monat habe ich meine Familie in den USA besucht. Jetzt fahre ich wieder nach Hause, denn die Ukraine ist jetzt meine erste Heimat und Amerika meine zweite.

Wie kam es dazu?

Ich kam vor zwei Jahren für ein Praktikum in die Ukraine - bei Freunden, die englischsprachige Programme von der amerikanischen Kirche aus organisierten. Ich kam um von ihnen zu lernen und habe mich in die Menschen hier verliebt, vor allem durch die Arbeit mit Kindern aus armen Familien. Ich habe mich auch in das Land verliebt. Seitdem bin ich immer wieder zurückgekommen.

Weil ich Praktikant war, musste ich in den ersten sechs Monate des Krieges das Land verlassen, aber in der Zeit in der ich weg war, habe ich online die Kurse mit den Kindern aufrechterhalten. Ich habe die ganze Zeit mit ihnen kommuniziert.

Nach den sechs Monaten habe ich Geld aufgetrieben und seitdem mache ich unabhängig finanzierte Arbeit durch die amerikanische Kirche. Ein oder zweimal im Monat fahre ich irgendwo in die Nähe der Front um den Kirchen, mit denen wir im Verbund sind, humanitäre Hilfe zu bringen - normalerweise in der Region von Kherson, Donezk oder Charkiv. Unter der Woche biete ich unterschiedliche englischsprachige Aktivitäten an, abhängig von der Jahreszeit. Wenn man die Kinder sieht die dort feststecken und dann anfangen zu spielen, Sport zu machen, Fußball oder amerikanischen Fußball spielen, ist das so schön.

Sind dort viele Kinder?

Kommt drauf an wo man hingeht. In Kherson sind die meisten Kinder. Weil der Ort so schnell okkupiert wurde, sind viele nicht geflohen und sitzen dort fest. In Kherson haben auch die schlimmsten Kriegsverbrechen stattgefunden, von denen ich gehört habe. Kriegsverbrechen an Kindern. Das ist furchtbar. Man hört entsetzliche Geschichten, wie sie Kinder behandelt und was sie ihnen angetan haben, sogar Kleinkindern.

Aber als ich zwei Tage nach der Befreiung nach Kherson und drei Wochen danach nach Balaklija kam, war es so unglaublich, den Patriotismus dort zu sehen. Die Menschen wurden während der Besatzung so unterdrückt, sie wurden weggeschlossen und oft an Ort und Stelle umgebracht, ohne auch nur ins Gefängnis gebracht zu werden, wenn sie zeigten, dass sie für die Ukraine sind. Und ihre Freude, als sie die ukrainische Militärflagge sahen - das ist etwas, was man nicht beschreiben kann. Es ist unglaublich.

Ich komme ja aus Berlin und Patriotismus sieht man dort eher als etwas Schlechtes an.

Ja, ich war ein paar Mal in Deutschland, das ist wegen der Vergangenheit. Ehrlich gesagt war Patriotismus vor dem Krieg hier auch nicht sehr populär. Jetzt ist das okay um das eigene Land zu unterstützen, und um zu zeigen, wie stark die Ukrainer in Wirklichkeit sind. Selenskyj nennt sie unbezwingbar und unaufhaltsam - und das ist wahr.

Lernst Du Ukrainisch?

Ja. Wir lassen uns nicht von Putin abschrecken, denn wenn Russland angreift, macht das mich und auch mehr und mehr Ukrainer einfach nur sauer und motivierter. Es wäre der Sieg für Putin, wenn wir zuhause sitzen, Angst haben und depressiv sind, wegen dem, was sie Kiew und den anderen Teilen der Ukraine antun.

Josh steigt in Lviv aus. Er hat schon drei Tage nicht mehr richtig geschlafen. Sein ganzes Gepäck ist gefüllt mit Brettspielen für die Kinder. Für mich zieht er sein Selenskyj-T-Shirt an, er sieht ihm verdammt ähnlich. Joshs Traum ist es, den Präsidenten einmal persönlich zu treffen. Auf dem Bahnsteig sehe ich seine ukrainische Freundin ihn umarmen. Und mich holt mein Vater ab, nach einer anstrengenden Nacht im Sitzen. Ich mache noch ein Foto mit Sascha und Lida vor unserem Zug.

In Kiew ist scheinbar alles wie vorher, doch der Schein trügt. Ich sehe viel Militär, die Fenster meiner Wohnung sind mit Klebeband verklebt. Der Besitzer schreibt mir eine SMS: Wenn ich Angst hätte, sagt er, sollte ich mich im Bad verstecken; einen Bunker in der Nähe gebe es nicht. Die Wohnung liegt am Platz der Unabhängigkeit, dem berühmten Maidan.

Meine Freundin Dana lebt im Solomjanskyj-Bezirk, der ständig bombardiert wird. In ihrer Straße um den Solomjanskyj-Platz sind viele Gebäude von Raketen getroffen worden. Der Bezirk ist zum Wohnen einer der unsichersten.

Wie heißt Du, und wie alt bist Du?

Dana: Ich heiße Dana Brezschneva, bin 36 Jahre alt und arbeite im Museumssektor.

In welchem Stock wohnst Du?

Im Fünften, aber im Prinzip denke ich, dass hier niemand sicher sein kann. Bei dem Gebäude hier, das als Letztes getroffen wurde, gibt es jetzt zwei Eingänge nicht mehr. Es ist ein neunstöckiges Gebäude. Das da gegenüber ist meine Schule. Siehst Du? Sie hat keine Fenster mehr. In meiner Klasse gibt es einfach keine Fenster mehr. Auch die zerbombten Autos hat man noch nicht weggebracht.

Es gab bisher viele ausgebrannte Autos. Eines gehörte einem behinderten Menschen. Alle haben dann für ihn Geld gespendet. Die Menschen sind überhaupt toll, sie haben sich sofort selbst organisiert - es gab 3.000 Freiwillige, die gekommen sind, um Trümmer zu räumen. Es war minus 20 Grad, aber ihnen wurde nicht kalt: Alle arbeiteten und halfen.

Wann war das?

Ungefähr vor zwei Wochen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie viele Menschen bei dem Angriff sofort gestorben sind. Ich weiß aber, dass sehr viele im Krankenhaus ihren Verletzungen erlegen sind.

Wir gehen in ein völlig ausgebranntes Haus, überall wuseln Leute, sie tragen Koffer herein oder hinaus. Dana spricht eine Frau auf einem Stockwerk an, auf dem die Nachbarwohnung nicht mehr als Wohnung zu erkennen ist.

Dana: Guten Tag, wir sind von einem deutschen Radio, Natalija würde gerne ein paar Fragen stellen.

Frau: Nein, danke.

Natalija: Ich habe das Gefühl, dass man die Ukraine in Deutschland vergisst. Und ich bin gekommen, um zeigen zu können, dass deutsche Hilfe noch gebraucht wird.

Frau: Dann machen Sie mal ein paar Fotos hiervon. Dann wird es auf jeden Fall klar, dass wir Hilfe brauchen. Hier kann man nicht mehr wohnen, Sie sehen es ja: In diesen drei Hauseingängen wohnt niemand mehr. Und die anderen sind zugenagelt.

Dana: Sollen wir Ihnen Sachen tragen helfen?

Frau: Nein nein, das ist zu schwer.

Natalija: Und Ihre Nachbarn? Ich hoffe, sie waren nicht zuhause?

Frau: Doch, waren sie.

Natalija: Und was ist mit ihnen?

Frau: Sie haben es geschafft.

Ausgebrannte Wohnung in Kiew 2024 (Quelle: rbb/Natalija Yefimkina)Ausgebrannte Wohnung in Kiew

Als wir durch die ausgebrannte Wohnung gehen und alle verbrannten Sachen, die ausgeschlagenen Fenstern sehen, wird Dana schlecht. Wir gehen raus und stellen uns in den riesigen Bombenkrater von 20 Meter Durchmesser, im Hof vor den Hauseingängen.

Dana: Als ich nach dem Einschlag herkam, hat man mir gesagt, was ich machen soll. Ich bekam einen kleinen Platz zur Trümmerräumung zugeteilt. Ich konnte nicht verstehen, was das für ein Raum war: Dort stand ein Bettchen ... wohnten hier etwa Obdachlose, solange es kalt war? Dann kam eine Frau und sagte, wir haben hier Strassenhunde gehalten, im Warmen. Mit einem Mädchen habe ich gemeinsam den Schutt weggeräumt, es ihnen schön gemacht, diesen Hunden. Aber sie sind leider weggelaufen.

Du hast auch einen Hund. Wie geht es dem?

Mein Hund ist so gestresst, dass ich ihn auf dem Land bei meiner Mama gelassen habe. Meine Hündin ist während des Krieges ganz grau geworden, sie war vorher ganz schwarz und in diesen zwei Jahren hat sie einen grauen Bart bekommen und sie zittert die ganze Zeit am ganzen Körper. Die Hunde kommen mit diesem ganzen Schrecken überhaupt nicht klar.

Und die Menschen?

Die Menschen kommen damit wesentlich besser klar, wie sich herausgestellt hat.

Halten Sie durch, sagt Dana zu der Frau. Wir verabschieden uns. Ich frage Dana: Willst Du nicht von hier abhauen, aus diesem Bezirk?

Dana:
Ich denke darüber nach, aber wenn ich mir vorstelle, mit dem ganzen Zeug umzuziehen...Aber natürlich sind das nur Ausreden. Wo soll ich denn hin? Gleich zwei Haltestellen von mir entfernt wohnt meine Schwester, und zwei Haltestellen in die andere Richtung wohnt meine Tante. Wir wohnen alle im gleichen Bezirk. Wir könnten alle in einem sicheren Bezirk zusammenziehen, aber alles ist doch unsicher. Wo soll man denn hinziehen?

Dana ist aus Überzeugung im Land geblieben, weil sie das Gefühl hat, hier was tun zu können, wie sie sagt. Außerdem kämpfen ihre beiden Brüder in der ukrainischen Armee.

Am Abend gehe ich mit Dana in einen Club, der bis zur Sperrstunde um 23 Uhr geöffnet hat. Der Besitzer und DJ spricht mit mir darüber, warum es gerade jetzt so wichtig ist, Clubs, Kinos und Theater zu haben und den Leuten eine Möglichkeit zu geben, aufzuatmen. Alles scheint so wie immer und doch ist überall das Leben für den Moment zu spüren, das Auskosten jeder Sekunde, denn alles könnte so schnell vorbei sein. Ich treffe in dem Club auch Danas litauischen Mann, der sie nur zum Schein geheiratet hat, um in die Ukraine ziehen und dort bleiben zu können. Es sind Geschichten, die die Ukraine und Kiew als einen Magnet erscheinen lassen - ganz anders, als ich gedacht habe.

Kurz vor 23 Uhr kehre ich zurück. Im Treppenhaus gibt es kein Licht. Ich stoße auf einen Mann und schreie los. Dann entschuldige ich mich. Sie haben mich so erschreckt, sage ich. Er antwortet, er habe sich auch erschreckt. Ich frage ihn, was er auf der Fensterbank macht. Er sagt, ihm sei das Geld ausgegangen, er sei aus dem Osten, sein Haus, seine Wohnung seien zerstört. Ohne nachzudenken, sage ich ihm, dass ich mehrere Schlafzimmer habe und dass er mitkommen soll. Er trägt einen langen Mantel und einen bunten Schal und wirkt unglaublich schüchtern. Sein Blick ist nach unten gerichtet, die Worte spricht er ganz leise aus.

Ruslan im Eingang vom Haus. (Quelle: rbb/Natalija Yefimkina)Begegnung im Treppenhaus: Ruslan

Ruslan: Ich bin Ruslan ... vielleicht ist es besser ohne Nachnamen?

Nein, den brauchen Sie nicht zu nennen.

Ich bin 32 Jahre alt und habe in der Werbebranche gearbeitet. Ich war Verkaufsleiter in einer kleinen Werbeagentur, bin aber ausgebildeter Techniker in der Lebensmittelproduktion. Ich lebte in einer Kleinstadt, 60 Kilometer von Donezk entfernt. Wie die Situation dort ist? Manche sagen, es ist endgültig russisch - die anderen sagen, es ist noch ein wenig ukrainisch. Aber ganz klar ist, dass es vollkommen zerbombt ist.

Als die ersten Raketen fielen, habe ich entschieden, dass es sich alles sehr schlecht anfühlt, furchtbar, und ich irgendwo ganz weit weg muss. An der ukrainischen Grenze in Lwiw waren meine Pläne, weit wegzugehen, dann beendet.

Was heißt sie waren beendet? Haben sie Sie einfach zurückgeschickt?

Sie haben gesagt: Du bist ein Mann zwischen 18 und 60 - entschuldige, aber verschwinde.

Und dann?

Ich habe versucht, einen festen Job oder einen nicht so festen zu finden. Einige Zeit lebte ich im Hostel. Aber bis jetzt hat es nicht geklappt, zurückzugehen - aber hier klappt es auch nicht. Es ist Krieg und alle haben Probleme, alle habe es schwer. So sieht es aus.

Und wie ist Ihre Situation jetzt?

Meine Situation sieht so aus, dass es mit dem Geld schwer ist und mit dem Wohnraum auch, so befinde ich mich jetzt auf der Straße. Ich habe Hoffnungen, dass mir der Staat mit dem Wohnraum hilft. Es gibt Menschen, die bekommen Wohnraum. Ich war in den Hilfestellen, dort gibt es aber Schlangen, denn zuerst kommen Frauen, Kinder, Alte und Invalide dran, und von denen gibt es sehr viele.

Ich versuche, mich zu pflegen, aber mich zu waschen und zu rasieren klappt gerade überhaupt nicht. Als ich noch ein wenig Geld hatte, bin ich in ein Hostel gegangen, habe eine Nacht geschlafen, habe mich so gut wie möglichst in Ordnung gebracht und meine Sachen gewaschen.

Und wie lange ist das her?

Ungefähr einen Monat.

Und warum gehen Sie nicht kämpfen?

Ich bin Pazifist, das ist meine Weltsicht. Ich bin gegen den Krieg und war auch nicht in der Armee, habe an Gott geglaubt, daran, dass man Menschen nicht töten darf. Deswegen habe ich versucht, mich davon fernzuhalten.

Und wo sind Ihre Eltern?

Meine Eltern sind ein Jahr vor dem Krieg gestorben. 2021 erst Mama und dann auch der Vater.

Und warum sind sie so früh gestorben?

Mein Vater hatte Probleme mit dem Herzen, er hatte eine Operation und nach dieser Operation ist er gestorben. Mama ist an Covid erkrankt, sie ins Krankenhaus gekommen. Und dann hat sie eine Lungenentzündung bekommen und die Ärzte haben es nicht geschafft sie zu retten.

Ich bin alleine. Ein einsamer Einzelgänger.

Ich werde Ihnen jetzt ein Bad machen, und dann werden Sie sich schlafen legen.

Ich schlafe im oberen Stockwerk im Kalten und lasse Ruslan, nach einem schönen Essen, unten schlafen, im Warmen auf einer Couch. Nachts kann ich nicht einschlafen, weil mir klar wird, dass alles im unteren Stockwerk ist: mein Computer, mein Pass, meine Bankkarte, mein Bargeld. Dann denke ich: Wenn Du einem Menschen vertraust, dann vertraue ganz. Morgens ist Ruslan noch da.

Natalija mit Ruslan am ersten Tag (Quelle: rbb/Natalija Yefimkina)Ruslan und Natalija

Ich habe als Geschenk für Berliner Freunde eine Kaviardose besorgt, die mache ich jetzt schon mit Ruslan auf. Sein Gesicht, seine Statur, sein ganzes Ich hat sich verändert, er schaut mir in die Augen. Ruslan bleibt fünf Tage mit mir in der Wohnung - danach muss ich fahren und lasse ihn zurück.

In den fünf Tagen versuchen wir, einen Job für ihn zu finden, was schwierig ist, weil man dafür einen Militärausweis braucht. Ich repariere sein Telefon, damit er wieder seine E-Mails checken kann. Jeden Abend essen wir zusammen. Am zweiten Abend erlaubt mir Ruslan nicht mehr, im ungeheizten Zimmer zu schlafen, das sei schlecht für meine Gesundheit, sagt er. Weil ich mich weigere, mit ihm das Zimmer zu tauschen, verlässt er um zwei Uhr nachts das Haus. Ich hole ihn zurück, indem ich verspreche, dass ich wieder nach unten umziehe. Er schimpft, das sei doch keine Art, wie er sich verhalte, er habe mir alles weggefressen und dann noch den warmen Platz weggenommen und alles. Ich höre ihn noch die halbe Nacht über sich selbst schimpfen.

Am fünften Tag schrecke ich aus dem Schlaf. Der Luftangriff ist so laut, dass ich nach oben und ins Bad renne. Aus allen Fenstern ist Rauch zu sehen. Ich schreibe eine SMS an meinen Vater und frage ihn, wo der Angriff passiert ist. Er schreibt zurück, dass es nicht in meiner Nähe sei. Ich frage mich: Wie laut wird es erst sein, wenn es einmal in der Nähe ist? Den ganzen Tag über heulen die Sirenen, die Leute spazieren weiter.

Mein Kiew, was haben sie mit dir gemacht?

4 Kommentare

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  1. 4.

    Es gibt immer 3 Wahrheiten. Was die eine Seite erzählt, was die andere Seite erzählt und das, was wirklich passiert ist. Warum befragt ihr nicht mal Leute aus den Gebieten, die seit 2014 von der Ukraine beschossen werden? Am besten befragt ihr beide gleichzeitig zusammen. Ich denke sie hätten sich viel zu erzählen.

  2. 3.

    Die Frau hätte sich mit ihren Landsleuten vielleicht schon seit 2014 diese Frage stellen sollen, wie es den beschossenen Menschen im Donbas ging, warum ihr Land die Minsker Verträge nicht einhielt, warum so viele natoosterweiterungen stattfanden, dann würde sich ihr diese Frage heute nicht stellen.

  3. 2.

    ja ein sehr berührender und wichtiger, weil die Menschen zeigender Artikel - Sehrempfehlenswert! Danke!

  4. 1.

    Danke, Danke, Danke für diese Wahnsinns-Schilderung! Es ist so erschütternd und es ist so gut und richtig, dass solch ein Bericht uns das ganze Elend der Menschen wieder einmal aufzeigt.

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