Ukrainische Jugendliche in Willkommensklassen - Ein Jahr für die Sprache, danach ist vieles offen

Mo 16.05.22 | 06:10 Uhr | Von Thomas Rautenberg
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Willkommensklasse für ukrainische Jugendliche (Quelle: rbb/Thomas Rautenberg)
Audio: 16.05.2022 | Inforadio | Thomas Rautenberg | Bild: rbb/Thomas Rautenberg

In den Willkommensklassen der Hans-Böckler-Schule in Berlin sollen ukrainische Jugendliche so gut Deutsch lernen, dass sie eine Ausbildung oder ein Studium anfangen können. Doch wie es danach weitergeht, wissen viele nicht. Von Thomas Rautenberg

Bis vor drei Monaten ging Oleksandr, 16 Jahre, in Kiew zur Schule. Dann begann die russische Invasion und seine Mutter flüchtete mit ihren beiden Kindern nach Berlin.

Nun ist Oleks in einer Willkommensklasse an der Hans-Böckler-Schule, einem Oberstufenzentrum für Konstruktionsbautechnik in der Berliner Lobeckstraße. Englisch steht heute auf dem Plan. Für Oleksandr kein Problem. Deutsch sei da deutlich schwieriger, gibt er zu obwohl er früher schon mal Unterricht in deutscher Sprache hatte. "Ich habe viele Wörter einfach vergessen. Verstehen kann ich recht gut, aber mit dem Schreiben habe ich so meine Probleme."

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In der Nachbarbank sitzt Dmytro, er ist genauso alt wie Oleks. Mit der deutschen Sprache hatte er noch nie zu tun. Zuhause in Lwiw, dem früheren Lemberg, besuchte er die 11. Klasse einer Oberschule. Dann fing der Krieg an und seine Eltern schickten ihn mit seinem kleinen Bruder zu einer Tante nach Berlin. Sie selbst sind in der Ukraine geblieben. Für ihn sei das wirklich ein Problem, sagt Dmytro leise. Zum ersten Mal sei er mit seinem Bruder allein auf sich gestellt: "Die Schule, die ganze Verantwortung, ich fühle mich richtig schlecht."

Senat rechnet mit steigenden Zahlen

Über 100.000 ukrainische Schülerinnen und Schüler sind wegen des Krieges im eigenen Land nach Deutschland gekommen. Alleine In Berlin gehen nach Angaben der Kultusministerkonferenz (KMK) mehr als 3.000 ukrainische Kinder und Jugendliche zur Schule und es werden voraussichtlich mehr werden. Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) hatte angekündigt, dass der Senat angesichts des Krieges in der Ukraine weiter mit steigenden Zahlen rechne.

Lernen für den Abschluss

Acht Willkommensklassen mit insgesamt 100 Schülerinnen und Schülern gibt es zurzeit in der Hans-Böckler-Schule. Eine davon ist ausschließlich für junge Menschen aus der Ukraine. 15 Jugendliche werden dort unterrichtet. Acht von ihnen, darunter auch Oleksandr und Dmytro, sind in der Englisch-Stunde dabei. Die anderen sieben bereiten sich per Homeschooling ihrer ukrainischen Schule auf den dortigen Schulabschluss vor. Vom Unterricht in der Klasse im Berliner Oberstufenzentrum sind sie derweil freigestellt.

Auch Oleks und Dmytro setzen sich nach dem Schulschluss an den Computer. Dann steht der Lehrstoff aus der Ukraine auf dem Plan. Der Online-Unterricht in der Heimat sei für ihn die zweite Schicht, sagt Aleks.

Willkommensklasse für ukrainische Jugendliche (Quelle: rbb/Thomas Rautenberg)
Schulleiterin Karen Seypt | Bild: rbb/Thomas Rautenberg

Die Jugendlichen haben es nicht leicht

Klassenlehrerin Karolina Artemova hilft, wo sie kann. Sie ist vor 25 Jahren aus der Ukraine nach Deutschland gekommen und kann sich vorstellen, was in den jungen Leuten vor sich geht: ihre Unsicherheit, ihre Zerrissenheit und auch ihre Sorge, wie es mit den Eltern weiter geht. Wie bei Oleks, dessen Vater irgendwo beim Militär eingesetzt ist.

Karolina Artemova ist in allen Stunden der Willkommensklasse dabei. Auch im Englisch-Unterricht steht sie zwischen den Bänken und übersetzt für die Jugendlichen in die Muttersprache, wenn es hakt und sie nicht weiterwissen. Und sie tröstet auch mal, wenn Emotionen hochkommen. Es gehe hier ruhiger zu als in den anderen Klassen, sagt die Lehrerin. "Sie sind oft sehr nachdenklich. Das muss man sagen. Ich glaube, dass die meisten ganz schnell wieder zurück möchten. Aber man muss abwarten, ob es den Heimatort überhaupt noch gibt, an den sie zurückkehren können."

Ein Jahr für die Sprache

Diejenigen, die bleiben, sollen in einem Jahr so gut Deutsch erlernen, dass sie eine Ausbildung oder gar ein Studium anfangen können. Am Oberstufenzentrum besteht auch die Möglichkeit für eine berufsvorbereitende Orientierung, etwa im Bereich Metalltechnik. Aber alles zu seiner Zeit, sagt Schulleiterin Karen Seypt. Man dürfe in dieser Phase keinen Druck ausüben. Voraussetzung für alles sei der Spracherwerb.

Zwar hätten einige handwerkliche Fähigkeiten und Interessen, sagt Seypt. Aber am Ende stehe für alle eine Prüfung an. Und um die zu bestehen, müsse man schon ein sicheres Sprachgefühl haben, meint die Schulleiterin. "Nichts ist schlimmer, als wenn ein junger Mensch hochmotiviert in eine Ausbildung startet und dann an fehlenden Sprachkenntnissen scheitert."

Oleksandr will nach der Schule Programmierer werden. Dmytro dagegen weiß noch nicht, was er nach dem Abschluss machen will. Jetzt sind sie erstmal in Berlin. Im Moment wollen sie hier auch bleiben. In Sicherheit aber fernab der Heimat.

Sendung: Inforadio, 16.05.2022, 08:10 Uhr

Beitrag von Thomas Rautenberg

1 Kommentar

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  1. 1.

    Die Klassenstärke auf dem Bild sorgt garantiert für gute Ergebnisse. Das klappt überall auf der Welt.

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