Landesverfassungsgericht - Berlin-Wahl muss komplett wiederholt werden

Mi 16.11.22 | 15:09 Uhr
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Die Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichtshofes Sönke Hilbrans (l-r), Jürgen Kipp, Sabrina Schönrock, Ludgera Selting (Präsidentin), Robert Wolfgang Seegmüller, Ahmet Kurt Alagün, Margarete Gräfin von Galen und Christian Burholt stehen im Verfassungsgericht (Quelle: dpa/Annette Riedl)
Video: rbb24 Abendschau | 16.11.2022 | D. Knieling / B. Hermel | Bild: dpa

Zum ersten Mal in der Geschichte muss eine Berliner Wahl wiederholt werden. Das hat das Landesverfassungsgericht am Mittwoch entschieden. Grund sind die zahlreichen Pannen bei der Wahl 2021. Nun muss Anfang 2023 erneut gewählt werden.

Die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus vom 26. September 2021 muss komplett wiederholt werden. Das hat der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin am Mittwoch entschieden.

Wie Gerichtspräsidentin Ludgera Selting erklärte, werden die Wahlen im gesamten Stadtgebiet für ungültig erklärt. Betroffen sind ist neben der Abgeordnetenhauswahl auch die Wahl zu den Bezirksverordnetenversammlungen, die am selben Tag stattfanden. Nicht betroffen ist der Volksentscheid "Deutsche Wohnen & Co enteignen", über den ebenfalls am Wahltag abgestimmt worden war.

Wie der Berliner Landeswahlleiter Stephan Bröchler am Nachmittag im Social-Live von rbb|24 bestätigte, wird die Wahl am 12. Februar 2023 wiederholt. Die offizielle Bekanntgabe des Termins erfolge am kommenden Freitag im Amtsblatt. Laut Gesetz hat das Land Berlin nach der Entscheidung vom Mittwoch lediglich 90 Tage Zeit, um die Wahl zu wiederholen.

Fragen und Antworten zur Wiederholungswahl im Video:

Die Entscheidung war so erwartet worden, nachdem Gerichtspräsidentin Selting bei einer mündlichen Verhandlung bereits erklärt hatte, dass angesichts der zahlreichen Wahlpannen eine "vollständige Ungültigkeit" der Wahl in Betracht komme. Laut Verfassungsgerichtshof muss das Urteil nicht durch das Bundesverfassungsgericht überprüft werden, wie zuvor die Senatsinnenverwaltung angeregt hatte. Zur Begründung sagte Selting, das Landesverfassungsgericht sei mit seinem Votum nicht von der bisherigen Rechtsprechung der Karlsruher Richter abgewichen.

Am 26. September 2021 war es zu schweren Wahlpannen gekommen. Neu gewählt wurden an diesem Tag Bundestag, das Abgeordnetenhaus und die zwölf Bezirksparlamente. Hinzu kam noch ein Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungskonzerne. Nebenher lief allerdings auch der Berlin-Marathon. Es kam zu massiven Problemen: So wurden falsche Stimmzettel ausgegeben oder es fehlten Stimmzettel, es gab zu wenige Wahlurnen, Wohllokale wurden zeitweise geschlossen oder es gab lange Schlangen davor. Zum Teil stimmten Wähler noch nach 18 Uhr oder etwa auf eilig kopierten Stimmzetteln ab, weil Nachschub ausblieb.

Die Gerichtsentscheidung vom Mittwoch stützte sich nun im Wesentlichen auf Wahlniederschriften der Urnenwahllokale und rund 100 Stellungnahmen von Beteiligten, wie Selting sagte. Alleine die aus diesen Unterlagen hervorgehenden Wahlfehler seien ausreichend, um die Wahl für ungültig zu erklären. Außerdem lasse sich nicht mehr feststellen, wie viele Menschen genau ihre Stimme wegen der Pannen nicht abgeben konnten. Problematisch sei auch gewesen, so das Gericht, dass Menschen teilweise noch nach 18 Uhr wählen konnten, als bereits erste Prognosen bekanntgegeben wurden.

Der Livestream zur Gerichtsentscheidung zum Nachschauen:

Das Gericht sei sich im Klaren über die Tragweite, sagte die Gerichtspräsidentin. Doch die Wahlfehler seien zu zahlreich und zu gravierend gewesen. Nur wenn die Wahl komplett wiederholt werde, könne eine Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses und der Bezirksverordnetenversammlungen gewährleistet werden, die den rechtlichen Anforderungen an demokratische Wahlen genügt.

Die Wahl nur teilweise zu wiederholen, lehnte das Verfassungsgericht ab. Das gebe einer verhältnismäßig kleinen Gruppe an Wählerinnen und Wählern zu viel Einfluss auf das Gesamtergebnis, hieß es. Die Mandatsrelevanz müsse dabei gar nicht mathematisch belegt sein, so Selting. Die schiere Menge an Fehlern reiche aus, um pauschal festzustellen, dass die Sitzverteilung beeinflusst wurde.

In der Begründung für seine Entscheidung lieferte das Gericht auch Zahlen als Beleg. So hätten zum Beispiel allein bei der Zweitstimme mindestens 20.000 Menschen ihre Stimmen nicht abgeben können. Der AfD hätten bereits 2.000 Stimmen mehr einen weiteren Sitz im Abgeordnetenhaus gebracht, den Grünen fehlten 10.000 Stimmen für einen weiteren Sitz. Der FDP hätte sogar schon eine dreistellige Zahl von Stimmen allein in Charlottenburg-Wilmersdorf geholfen.

Die Schuld gab das Gericht den für die Wahldurchführung zuständigen Verwaltungen. In einigen Wahllokalen seien die Bedingungen unzumutbar gewesen, so Selting. Die demokratischen Grundsätze wie das Recht auf freie und gleiche Wahlen sei von Anfang an gefährdet gewesen. Dabei gehe es nicht nur um die mehr als 5.000 nicht ausgeteilten oder die rund 4.000 falschen Stimmzettel am Wahltag selbst - schon die mangelhafte Vorbereitung der Wahlen sei ein schwerer Fehler gewesen, sagte Selting. So seien nicht genug Wahlkabinen eingeplant worden, auch hätten die zuständigen Stellen zu wenig Zeit für die Stimmabgabe veranschlagt. Demnach waren pro Person drei Minuten Wahlzeit veranschlagt worden - bei sechs Stimmen und fünf Wahlzetteln völlig unrealistisch, so Selting. Den Beweis hätten die Organisatoren der Wahl noch am Wahltag selbst erbracht: Weil sich mancherorts lange Schlangen bildeten, wurden zum Teil eilig weitere Kabinen herangeschafft. Die Erklärung, man habe wegen der Pandemie-Auflagen mit weniger Präsenz- und mehr Briefwählern gerechnet, ließ die Gerichtspräsidentin nicht gelten.

Wie viele Menschen genau wegen der zwischenzeitlich geschlossenen Wahllokale oder fehlenden Stimmzettel nicht gewählt hätten, sei nicht mehr exakt festzustellen . Auch sei unklar, wie viele Menschen unter dem Einfluss erster Hochrechnungen nach 18 Uhr abgestimmt haben. Etwa die Hälfte der Wahllokale sei nach 18 Uhr noch geöffnet gewesen - zu viele, um von vereinzelten Fehlern zu sprechen.

Um Pannen wie bei der vergangenen Wahl zu vermeiden, sollen bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus und zu den BVV mehr Wahlhelfer: mindestens 38.000 statt 34.000 im Vorjahr. Sie sollen besser geschult werden und eine deutlich höhere Entschädigung erhalten. In Wahllokalen sollen zudem mehr Wahlurnen stehen als beim letzten Mal.

Auch eine Wiederholung der Wahl zum Bundestag ist nötig - zumindest für einen Teil der Berlinerinnen und Berliner: Der Bundestag beschloss in der vergangenen Woche auf Basis einer Empfehlung seines Wahlprüfungsausschusses mit den Stimmen der Ampel-Fraktionen SPD, Grüne und FDP, dass sie in 431 Berliner Wahlbezirken wiederholt werden muss. Die Parteien im Bundestag gehen aber davon aus, dass der Beschluss vor dem Bundesverfassungsgericht angefochten wird.

Sendung: rbb24 Inforadio, 16.11.2022, 12 Uhr

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198 Kommentare

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  1. 198.

    "Der Bundestag lässt nur in 343 Wahllokalen neu wählen. Nach Auffassung des Bundestages war in den restlichen Wahllokalen alles in Ordnung." Das könnte eventuell, vielleicht, unter Umständen..... daran liegen, dass die Wahlscheine für den Bundestag deutschlandweit gleich waren / sind.... Oder?

  2. 197.

    "Dann hat Berlin die Chance für eine sehr gute Politik." Schöne Bilder auf dem Fahrrad machen noch keine gute Politik. Aber vielleicht kann Jarasch ja in den nächsten zwei Monaten doch noch positiv überraschen und z.B endlich die Pläne für die Tram zum Ostkreuz neu auslegen sowie die Grünen in Moabit und die Linken in Kreuzberg davon überzeugen, dass nach jahrelanger Diskussion auch dort etwas passieren muss. Symbolpolitik, die ihr vor Gericht um die Ohren gehauen wird, sollte jedenfalls keine Zukunft haben. Es stehen genügend Mittel für die Verkehrswende bereit, die sie aber nicht abruft.

  3. 196.

    Hoffentlich geht der Wunsch von Björn Jotzo FDP in Erfüllung. Dann fliegen FDP und AfD aus Abgeordnetenhauzs und BVV raus, die CDU büßt viele Stimmen ein und Bettina Jarasch wird Regierende Bürgermeisterin. Dann hat Berlin die Chance für eine sehr gute Politik.

  4. 195.

    Wäre es nach den herrschenden gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kräften des Landes gegangen, dann hätte es überhaupt keiner Aufklärung bedurft – weil es nichts aufzuklären gab. Weder der öffentlich-rechtliche Rundfunk noch der Spiegel, den sein Gründer einst „Sturmgeschütz der Demokratie“ nannte, halfen bei einer kritischen Aufarbeitung eines sichtbaren Missstandes im Kern der Demokratie. Es durfte nicht sein, was nicht sein konnte: nämlich dass in der Hauptstadt der deutschen Vorzeigedemokratie eine Wahl abgehalten worden war, die keiner Demokratie würdig war. Das passte schlichtweg nicht in die Vorstellungen jener, die mit Vorliebe Polen oder Ungarn wegen angeblicher Demokratiemängel ermahnen.

  5. 194.

    Satire ! Meine Meinung !Peinlich ! Funktioniert überhaupt noch was in diesem Land ?!

  6. 193.

    Wissen Sie eigentlich, wie Richter in ihr Amt gewählt werden? Falls nicht, erkläre ich es Ihnen gern :)

  7. 192.

    Nö, ist nicht erstaunlich, wenn man den Artikel liest: "Die Wahl nur teilweise zu wiederholen, lehnte das Verfassungsgericht ab. Das gebe einer verhältnismäßig kleinen Gruppe an Wählerinnen und Wählern zu viel Einfluss auf das Gesamtergebnis, hieß es."

  8. 191.

    Wie dem auch sei es kommt wie es kommt.
    Ich wünsche mir jedoch nicht permanent grün für unsere Stadt.
    Wann wacht der Michel endlich auf ?

  9. 190.

    Eine Wiederholung der Wahl scheint angesichts der zahlreichen Fehler folgerichtig.

  10. 189.

    Natürlich passten 3 Wahlkabinen auch in ein Klassenzimmer, auch unter Coronaauflagen. Alles eine Frage der Koordination des Wahlvorstands und seiner Helfer. Verbunden mit seiner Erfahrung. Da waren leider sehr viele Anfänger am Werk bei der letzten Wahl, vermutlich wegen der erhofften Impfung. Die jetzt erhöhte Aufwandsentschädigung wird wieder viele Anfänger anlocken, die jedoch hoffentlich nicht gleich Wahlvorsteher werden.

  11. 188.

    Dem stimme ich zu. Es ist eine Chance für eine neue Regierung.

  12. 187.

    Berlin hat schon andere Träume platzen sehen. Auch hierfür wird haufenweise Geld vebrannt und nix ändert sich.

  13. 186.

    Ihre Argumentation zeigt eindeutig, wo Sie stehen und wovor Sie Angst haben. Zudem scheinen Sie der Ansicht zu sein, dass Ihre Meinung die allein seeligmachende sei und das ohne ausreichend Begründung. Also nur reine rhetorische Spielchen und damit reine Ideologie.

  14. 185.

    Vergessen? Es gab strenge corina Auflagen. Drei Wahlkabinen in einem abgeranzten Klassenzimmer waren nicht möglich. Bei uns hat der letzte um 19:20 gewählt. Alle die bis 18 Uhr in der Schlange standen. Glaube nicht, dass in diesem Wahllokal wiederholt wird

  15. 184.

    Ach Stammtischredner? Da dürften Sie sich irren. Eher dürften Sie eine Stammtischrednerin sein, die sich mit den einschlägigen Werken über die Grundlagen der Demokratie, also der Herrschaft des Volkes beschäftigen sollte. Auch zu empfehlen von Cicero Über den Staat. Vielleicht begreifen Sie dann wo die Grundlagen für unser Grundgesetz und damit den darauf beruhenden Gesetzen liegen. Übrigens das Haushaltsrecht ist ein zentrales Recht des Parlaments.

  16. 183.

    Es ist schon erstaunlich, daß Berliner Verfassungsgericht erklärt die gesamte Wahl für ungültig. Der Bundestag lässt nur in 343 Wahllokalen neu wählen. Nach Auffassung des Bundestages war in den restlichen Wahllokalen alles in Ordnung. Die Diskrepanz zum Urteil des Verfassungsgerichtshofes Berlin ist offensichtlich

  17. 182.

    Ein Fehlurteil. Man war nicht dazu angehalten, sondern verpflichtet, als Gericht nachzuweisen, worin die Fehler bestanden, statt 100 Leute zu befragen und die Presse zu zitieren! Stattdessen hebelt man Mandatsrelevanz komplett aus und begnügt sich mit Pseudoargumenten von Stimmgleichheit. Wo ist denn die Gleichwertigkeit der Stimmen gegeben zwischen denjenigen, die keine Stimme abgeben konnten und denjenigen Wähler*innen aus Wahlbezirken, in denen nichts schief lief? Das ist Willkür und alles andere als verhältnismäßig. Man will tabula rasa erreichen, ohne die eigene Verantwortung wahrzunehmen - auf der Torte der Peinlichkeiten ist das die Kirsche, allerdings eine verdorbene. Dass sich das Gericht schon vor der eigentlichen Untersuchung eine feststehende Meinung gebildet hatte, wird gar nicht erst kritisch aufgearbeitet, sondern es wird borniert durchgesetzt, was man sich in den Kopf gesetzt hat. Nach einer fehlerbehafteten Wahl nun ein ebenso unprofessionelles Urteil, passend.

  18. 181.

    "Die CDU war nach den 90er Jahren nicht lange genug im Senat, falls Kritiker dies äußern könnten."

    5 Jahre lang. Die Grünen kommen nun auf 6 Jahre.

    "Politik FÜR ALLE Bürger/Bürgerinnen wurde nicht gemacht
    nur eigene Ideologien umgesetzt, Geld verbrannt."

    Keine Partei macht Politik für ALLE, die setzen alle nur ihre Ideologie für ihr Klientel um.

    "Berlin braucht Regierende auf allen Ebenen, die Fachkompetenz, Berufs- und Lebenserfahrung und Sachverstand mitbringen. "

    Da es ne Wahlwiederholungen ist und die selben Wahlzettel sind: wer soll das denn bitte sein?!

  19. 180.

    Ich verstehe die ganze Aufregung nicht.
    2015 erklärte die unabhängige Wahlkommission Tansanias wegen „schwerwiegender Unregelmäßigkeiten” die Ergebnisse der Wahlen im halbautonomen Archipel Sansibar für ungültig.
    2017 annullierte das Oberste Gericht Kenias das Ergebnis der Präsidentenwahl.
    2019 erklärte das Verfassungsgericht in Malawi das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen wegen „systematischer und schwerer“ Unregelmäßigkeiten für null und nichtig.

    Wo ist da also das Problem?

  20. 179.

    "Es gibt eine Koalition aus CDU, SPD und FDP, sollten die Stimmen ausreichen."
    Diese Koalition wäre auch schon nach der letzten Wahl möglich gewesen, scheiterte aber an der SPD!
    Ich vermute mal die SPD wird wieder genauso handeln, siehe auch Bremen, Niedersachsen und MV !

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