Nachwahlanalyse zum Stimmensplitting - Wie unterschiedlich Berliner in Bund, Land und Bezirk gewählt haben

Sa 30.10.21 | 06:43 Uhr | Von Sophia Mersmann und Dominik Ritter-Wurnig
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Grafik: Hinter dem Balkendiagramm - Eine Wahlurne in einem Berliner Wahllokal. (Quelle: rbb/imago images/E. Contini)
Bild: rbb/imago images/E. Contini

Der Superwahltag zeigt: Viele Berliner:innen haben strategisch gewählt - und ihre Stimmen verschiedenen Parteien gegeben. Im Bund für die eine, im Land für die andere. Mit erstaunlichen Effekten. Eine Wahldatenanalyse von Sophia Mersmann und Dominik Ritter-Wurnig

Die CDU hat bei der Bundestagswahl katastrophal abgeschnitten - bundesweit und auch in Berlin. In der Hauptstadt haben bei der Bundestagswahl nur noch 15,9 Prozent ihr Kreuz bei der Union gemacht - 2017 war die Partei von Angela Merkel mit 22,7 Prozent noch auf dem ersten Platz.

Bei der Abgeordnetenhauswahl jedoch haben Kai Wegner und die CDU 60.000 Stimmen dazu gewonnen - auf Grund der gestiegenen Wahlbeteiligung bedeutet das ein knappes Plus (+0,4 Prozent) auf 18,1 Prozent.

Parteien als kommunizierende Gefäße

Die Berliner und Berlinerinnen achten genau darauf, welcher Partei sie auf welcher politischen Ebene vertrauen und haben am 26. September ihre Kreuzchen bei verschiedenen Parteien gemacht.

Viele haben ihre Stimmen gesplittet und im Bund anders gewählt als auf Länder- oder Bezirksebene. Das zeigt eine Auswertung von über fünf Millionen Stimmen bei der Bundestags-, Abgeordnetenhaus und Bezirkswahlen in den 2257 Wahlbezirken.

Alles deutet darauf hin, dass Wähler:innen ihre Stimmen nicht quer durch den Gemüsegarten splitten, sondern eher innerhalb eines politischen Lagers - also etwa im Bund die FDP, aber im Land sowie im Bezirk die CDU. Umgekehrt ist es wahrscheinlich, dass viele Wähler:innen im Bund die Grünen oder die SPD wählten, die dann bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus oder den Bezirksverordnetenversammlungen die Linke gewählt haben.

Viele teilen ihre Stimmen auf verschiedene Parteien auf

Der Politwissenschaftler Heiko Giebler von der Freien Universität Berlin sieht einen Grund für den Effekt in der unterschiedlichen Ausrichtung und personellen Besetzung von Bundes- und Landesebene. "Der relativ deutliche Negativ-Effekt von Armin Laschet auf der Bundesebene ging an der Berliner CDU relativ spurlos vorbei."

In der untenstehenden Grafik zeigt sich das dadurch, dass die schwarze CDU-Wolke, ein so genanntes Klüngel, unterhalb der Mitte des Dreiecks sitzt.

Wenn Sie die Grafiken nicht sehen können, bitte hier entlang.

CDU: Merkel-Bonus weg, Laschet-Malus da

Wie die folgende Grafik des vergangenen und aktuellen Wahlgangs zeigt, haben die Berlinerinnen und Berliner die CDU vor allem bei der Bundestagswahl abgestraft. So gut wie in allen Wahlbezirken hat die Union bei der Abgeordnetenhaus- und der Bezirkswahl besser abgeschnitten als bei der Bundestagswahl.

"Wir hatten bei der letzten Abgeordnetenhauswahl vor fünf Jahren eher die umgekehrten Voraussetzungen. Wir hatten eine relativ schwache und unbeliebte CDU in Berlin, aber dafür mit Angela Merkel und auch mit politischen Entscheidungen eher eine positive Perspektive auf die Bundesebene", sagt Giebler. "Daran sieht man sicherlich auch, dass sich die Ebenen nicht unbedingt gegenseitig beeinflussen." Die Wählerinnen und Wähler treffen ihre Wahlentscheidung bewusst für jede Ebene neu.

Während die CDU lange in der Bundesregierung ist, ist sie im Berliner Abgeordnetenhaus in der Opposition. Eine Stimme für die Berliner CDU sei laut Giebler somit auch ein "politischer Fingerzeig" gegen den rot-rot-grünen Senat.

SPD hat 2021 kein Ost-Problem mehr

Lange Jahre hatten die Sozialdemokrat:innen ein Problem im Osten und schnitten hier regelmäßig unterdurchschnittlich ab. Nicht so bei der Wahl 2021.

Beim Blick auf die roten Punkte im Dreiecksdiagramm fällt auf, dass die SPD eine sehr kompaktes Klüngel hat. Das bedeutet, dass die Sozialdemokrat:innen ihre Wählerinnen und Wähler in allen Wahlbezirken und auf allen drei Ebenen in sehr ähnlichem Ausmaß ansprechen konnten. Einzig bei der Bundestagswahl schnitt die SPD einen Hauch besser ab als bei der Abgeordentenhaus- und den Bezirkswahlen - allen voran im Ostteil der Stadt.

"Die SPD hat es wieder geschafft ihre Wählerinnen nicht nur auf einer Ebene zu gewinnen, sondern auch davon überzeugt, durch die Bank konsistent für sie zu stimmen", sagt Giebler.

Dabei profitiert die SPD aber wohl auch von der Schwäche der anderen. "Die SPD im Aufwind wird sozusagen wieder positiver wahrgenommen, während es gleichzeitig bei der Linken in die andere Richtung geht", sagt Giebler. "Davon kann die SPD auf jeden Fall auch profitieren." Nicht nur im ehemaligen Ost-Berlin, auch in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern gewann die SPD zuletzt stark auf Kosten der Linkspartei dazu.

Linke: Bundespolitische Querelen vs. beliebter Spitzenkandidat

Zur Union gibt es bei der Linken deutliche Parallelen: Bei der letzten Wahl stand man deutlich besser da. Die Schwierigkeiten und Querelen in der Bundespartei haben mutmaßlich Wähler:innen abgeschreckt. Im Ergebnis schnitt die Linke bei der Abgeordnetenhaus- und Bezirkswahl deutlich besser ab als bei der Bundestagswahl.

"Ich denke, dass die Links-Partei durchaus auf der Berliner Ebene von ihrer relativ guten Arbeit in der Legislaturperiode profitiert hat und auch mit Klaus Lederer eine Person hat, die bei vielen in Berlin relativ beliebt ist", sagt Giebler. Deswegen sei es eigentlich wenig überraschend, dass die Linke dann im Vergleich zur Bundesebene besser abschneide.

Schauen Sie sich das Stimmensplitting an ihrer Adresse an:

Grüne: Themen eher für Bundespolitik wichtig

Die Grünen hingegen haben in fast allen Wahlbezirken bei der Bundestagswahl besser abgeschnitten. Der Politikwissenschaftler Giebler vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung sieht dafür vor allen Dingen zwei Gründe:

1. Wenn eine Partei wie die Tierschutzpartei, wo man bestimmte Schnittmengen zu Themen der Grünen erwarten kann, relativ stark abschneide, dann seien das Prozentpunkte, die am Ende den Grünen im Zweifelsfall auch fehlen.

2. Themen wie Umweltschutz oder Nachhaltigkeit könnten nicht einmal auf Bundesebene wirklich gelöst werden, sondern nur global. "Sicherlich haben viele Leute ihre Stimmen den Grünen auf Bundesebene gegeben, weil man dort an Lösungsstrategien zumindest mehr arbeiten kann als jetzt in der Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg", sagt Giebler.

AfD: Gestiegene Wahlbeteiligung hat geschadet

Die AfD hat 2021 in Berlin fast überall mehr Wähler:innen bei der Bundestagswahl anziehen können als bei der gleichzeitigen Wahl zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlung wie die obige Grafik zeigt.

"Hier ist es sicherlich so, dass die die AfD in der Landespolitik nicht unbedingt die beste Figur gemacht hat. Es gab ja relativ viele Streitigkeiten und Probleme", sagt Giebler. "Dazu setzt die AfD maßgeblich auf Anti-Migration. Und das ist eben ein Thema, das man eher auf der Bundes- als auf Landesebene verorten würde."

Dazu kommt die gestiegene Wahlbeteiligung bei der Landes- und Bezirkswahl. "Man kann davon ausgehen, dass die AfD ihr Wähler:innen-Potential mehr oder weniger gut ausgeschöpft hat. Durch die höhere Wahlbeteiligung ist das relative Ergebnis aber nicht so stark", sagt Giebler. "Wäre vielleicht nur die Abgeordnetenhauswahl gewesen, dann hätte man vielleicht auch - relativ betrachtet - ein besseres Ergebnis für die AfD erwarten können."

FDP: Im Bund das Zünglein an der Waage

Die FDP wurde von den Berliner:innen verstärkt bei der Bundestagswahl gewählt, wo sie in Berlin auch fünftstäkste Kraft wurde. Bei den Abgeordnetenhaus- und Bezirkswahl blieb die FDP insgesamt hinter der AfD.

"Die FDP wird sicher von einem sehr positiven Bundestrend getragen", sagt Giebler. "Auf Bundesebene mag das dann für den einen oder anderen auch eine strategische Entscheidung gewesen sein, weil es ja so aussieht, dass die FDP der Akteur sein wird, der am Ende entscheidet, welche Regierungskoalition wir auf Bundesebene haben werden." Das seien Faktoren, die auf der Landesebene oder für die Bezirksparlamente keine Rollen spielen.

Wählen wir anders, wenn mehrere Wahlen gleichzeitig stattfinden?

Traditionell ist die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl höher als bei Landes- oder Bezirkswahlen. Findet sozusagen eine Nebenwahl zugleich mit der Hauptwahl statt, steigt die Wahlbeteilgung bei der kleineren Wahl.

Jene Wählerinnen und Wähler, die auch mal eine Nebenwahl auslassen, tendieren laut Giebler eher zu den großen Parteien und jedenfalls nicht zum politischen Rand. "Sowohl SPD als auch CDU und die Grünen haben auf jeden Fall von der gestiegenen Wahlbeteiligung in Berlin profitiert", sagt Politikwissenschaftler Giebler. "Die AfD ist wahrscheinlich die Partei, die am ehesten dadurch verloren hat."

Nicht einfach einzuordnen ist, wie sich der gemeinsame Wahltermin auf das Ergebnis der Parteien unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde ausgewirkt hat. "Wahrscheinlich hätte auch die eine oder andere Kleinpartei davon profitiert, wenn die Wahlbeteiligung niedriger gewesen wäre", sagt Giebler. "Weil die eben ihre Kernwähler und -wählerinnen mobilisiert haben, aber gleichzeitig so viele andere Leute auch noch zur Wahl gingen."

In Berlin betrifft das mutmaßlich die Tierschutzpartei sowie DIE PARTEI, die zwar in einigen Bezirksparlamenten vertreten sind, aber den Einzug ins Abgeordnetenhaus verpasst haben.

Beitrag von Sophia Mersmann und Dominik Ritter-Wurnig

9 Kommentare

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  1. 9.

    Das steht doch außer Frage, dass viele ehemalige DDR Bürger eine Affinität zu Autorität und sogar Diktaturen haben. Warum sonst wird dort die rechtsextreme AfD gewählt? Warum sonst finden Rechtsextremisten wie der Berndt oder Faschisten wie der Höcke Zuspruch?

  2. 8.

    Danke für die Antwort. Ich weiß leider nicht wie Sie die DDR wahrgenommen haben. Ich habe mir in der DDR öfter die Zunge verbrannt und das war mir dreimal lieber als diesem roten Geschwafel gehorsam zu folgen. Denn die Partei hatte nicht immer recht! Das Denken war in der DDR nicht verboten. Also bitte nicht alle in eine Schublade stecken. Ich glaube auch nicht, dass ich mit den unbequemen Fragen und Meinungen alleine war.

  3. 7.

    Von DEN Ostdeutschen schrieb ich nicht, nur von vergleichsweise stärker ausgerichteten autoritären Denkstrukturen. Da geht es zehnmal mehr um die glasklare und definitive Scheidung von Richtig und Falsch, als um eigenständige Positionen dazwischen. Da bestand in 40 Jahren kaum eine Gelegenheit dazu, ohne sich die Zunge zu verbrennen. Weitaus schwerer als die Inhalte zu verändern, ist es, die Strukturen im Denken und Handeln zu verändern.

  4. 5.

    Korrektur: es sollte eigentlich heißen: weil die Grünen im Osten immer noch NICHT als die Wahlsieger hervorgehen?

  5. 4.

    ...wenn sie denn wählen konnten bzw. durften.

  6. 3.

    Herr Krüger, was wollen Sie mit dem letzten Satz im ersten Absatz ausdrücken? Das die Ostdeutschen nicht Mit-oder Nachdenken können? Oder sind Sie nur etwas bedrückt, weil die Grünen im Osten immer noch als die Wahlsieger hervorgehen ?

  7. 1.

    Ich denke, dass es immer weniger um so bez. Stammwählende geht. Die gehören der Vergangenheit an. Meiner Empfindung geht es viel mehr darum, was maßgebliche Personen an Naturellen mitbringen. Olaf Scholz als selbst inszenierte Führungsfigur ("Wer Führung bestellt, kriegt sie auch")kommt im vergleichsweisse autoritäreren Osten besser an als Menschen, die in nachdenklicher Pose daherkommen, was dann zum Mit- und Selberdenken anregen soll.

    Beim Absatz mit Lederer hat sich offenbar im Bericht ein Fehler eingeschlichen: "Deswegen ist es eigentlich wenig überraschend, dass die Linke dann im Vergleich zur Bundesebene schlecht abschneidet." Es sollte wohl eher das Gegenteil ausgedrückt werden, dass die Partei (mit Lederer) besser abgeschnitten hat.

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