Wahl mit hohen Hürden - Hunderte Berliner Wahllokale sind nicht barrierefrei
Das wird kein einfacher Wahltag für Menschen mit Behinderung: Es gibt zwar 478 Wahllokale mehr als sonst – viele sind allerdings nicht barrierefrei. Gehbehinderte und auch Sehbehinderte müssen in Berlin viel Zeit einplanen. Von Sabrina Wendling
Für Antje Samoray ist Wählen nicht wie für viele andere. Denn sie ist blind. Jetzt liegen zwei lange Schablonen vor ihr auf dem Tisch – für die Stimmzettel zur Bundestagswahl und zur Wahl zum Abgeordnetenhaus. Sie tastet mit ihren Fingern über die Braille-Schrift auf den Schablonen. Die 1 auf der Schablone steht für die CDU, die 2 für die Linke – so erklärt es ihr eine CD.
"Bei den Stimmzetteln ist immer die obere rechte Ecke abgeschnitten, damit ich weiß, welches die Vorderseite ist", sagt Antje Samoray und tastet prüfend weiter ob der Zettel richtig in der Schablone liegt. "Man hat eigentlich immer die Angst, dass die Wahl aus irgendeinem Grund ungültig ist, weil man versehentlich das Kreuz schief oder falsch macht."
Weil das bei so vielen Zetteln dieses Jahr alles so lange dauert, hat Antje Samoray Briefwahl beantragt. In einer Wahlkabine würde sie mindestens 20 Minuten mit den Schablonen brauchen, schätzt sie. "Ich habe Angst, ich brauche so lange, dass dann ganz viele Menschen hinter mir Schlange stehen, da hab ich keine Lust drauf – ich empfinde das als sehr, sehr stressig."
400 Wahllokale sind nicht barrierefrei
Bei Antje Samoray sind es nicht die vielen Stufen, die sie von einer Stimmabgabe im Wahllokal abhalten – sondern weil es im Superwahljahr einfach super aufwändig ist, als blinder Mensch zu wählen.
Für Menschen mit einer Gehbehinderung sind es aber oft diese baulichen Hürden, die das Wählen für sie so umständlich machen. Denn immerhin 400 von 2.257 Wahllokalen in Berlin sind nicht barrierefrei. Entsprechend lang ist die Liste, die der SPD-Abgeordnete Lars Düsterhöft von der Innenverwaltung bekommen hat. Er wollte wissen, wie viele Wahllokale in Berlin uneingeschränkt zugänglich sind. "Was mich so nervt ist, dass wir das seit Jahren nicht besser hinkriegen", sagt Düsterhöft. "Das ist ein Armutszeugnis, man könnte bei der Auswahl von Wahllokalen doch einfach kreativer sein".
Infektionsschutz geht vor Barrierefreiheit
Der Berliner Behindertenverband sieht das ganz ähnlich. "Wir sind doch sonst so kreativ in Berlin", sagt deren Vorsitzender Dominik Peter. "Wieso nehmen wir nicht Schwimmhallen, Einkaufszentren, leerstehende Ladenflächen oder Bahnhöfe – also Orte, die sowieso barrierefrei sind?"
Die Innenverwaltung verweist darauf, dass der Infektionsschutz die Auswahl der Wahllokale erschwert hätte. Alten- und Pflegeheime mit ihren "günstigen Ausgangsbedingungen für die Barrierefreiheit" seien pandemiebedingt weggefallen. Gute Lüftungsmöglichkeiten haben die Auswahl zusätzlich erschwert. Und dann habe Berlin eben viele Altbauten – wobei zumindest letzteres nicht neu ist.
"Der Trend geht in die falsche Richtung"
So erklärt es auch der Bezirk Mitte, der die Liste der nicht barrierefreien Wahllokale anführt: Die sonst so geeigneten Kitas und Senioreneinrichtungen seien aus Infektionsschutzgründen weggefallen. Genau ein Drittel der Wahllokale im Bezirk sind dieses Jahr nicht barrierefrei.
In vielen Bezirken sieht es nicht viel besser aus: In Friedrichshain-Kreuzberg sind ein Viertel aller Wahllokale nicht barrierefrei – Lichtenberg, Neukölln und Tempelhof-Schöneberg kommen auf eine ähnliche Bilanz. So etwas wie der Leuchtturm in dieser Statistik ist der Bezirk Reinickendorf: Dort sind alle Wahllokale barrierefrei. Der Bezirk erklärt das mit einer guten Vorbereitung und damit, dass bereits seit vielen Jahren auf Barrierefreiheit bei den Urnenlokalen geachtet werde.
2017 waren 16,3 Prozent der Berliner Wahllokale nicht barrierefrei. Dieses Jahr sind es 17,7 Prozent. "Dieser Trend geht in die völlig falsche Richtung", sagt Düsterhöft, "und außerdem verstößt es auch gegen die UN-Behindertenrechtskonvention". Darin verpflichten sich die Mitgliedstaaten (zu denen auch Deutschland gehört), Menschen mit Behinderung "gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben" zu lassen. Sanktionen gibt es nicht, wenn Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien nicht geeignet, zugänglich und leicht zu handhaben sind".
Neue Wahllokale finden
Dominik Peter vom Berliner Behindertenverein ist enttäuscht darüber, dass Berlin beim barrierefreien Wählen nicht weiter ist: "Ich kenne viele Menschen im Rollstuhl, die wollen ihre Bürgerpflicht tun, und die wollen auch gerne am Sonntag im Wahllokal wählen gehen – das gehört für sie einfach dazu." Zwar gibt es die Möglichkeit, auf ein anderes als das nächstgelegene Wahllokal auszuweichen. Viele jedoch scheuten den Weg. "Diese Menschen sind frustriert, und es entsteht wieder einmal das Gefühl, dass niemand an sie gedacht hat", beklagt Peter.
Für die nächsten Wahlen wünscht sich der Berliner Behindertenverband, dass die Landeswahlleiterin auf die Betroffenen zukommt und nach Ideen fragt. Dann hätte Dominik Peter schon ein paar auf Lager.