Bericht der Landeswahlleiterin - Diese Zahlen zeigen das ganze Berliner Wahl-Chaos

Fr 15.10.21 | 17:00 Uhr | Von Dominik Ritter-Wurnig
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Eine Wahlhelferin sortiert in einer Grundschule, in der ein Wahllokal für die Kommunalwahl untergebracht ist, die Stimmzettel für die Auszählung. (Quelle: dpa/Hauke-Christian Dittrich)
Video: Abendschau |15.10.2021 | Iris Sayram | Bild: dpa/Hauke-Christian Dittrich

5.000 Stimmzettel nicht ausgegeben, 1.600 ungültige Stimmen, 73 Wahllokale vorübergehend geschlossen, 3 Abbrüche: Die Liste der Wahl-Pannen in Berlin ist lang. Ein Überblick über "erschreckende" Zahlen. Von Dominik Ritter-Wurnig

Fast jedes zehnte Wahllokal in Berlin machte am Superwahltag Probleme. Das berichtete die scheidende Landeswahlleiterin Petra Michaelis am Donnerstag dem zuständigen Wahlausschuss - und sprach selbst von erschreckenden und ärgerlichen Zahlen. Konkret: In 207 von 2.254 Wahlbezirken ist es bei der Abgeordnetenhauswahl am 26. September zu "Unregelmäßigkeiten" gekommen, wie es in dem detaliierten Bericht der Landeswahlleitung heißt, der auch im Internet nachzulesen ist [berlin.de/PDF].

Mehrere Tausend Mal Stimmzettel nicht ausgegeben

Dieser zeigt auch: Mehr als 5.000 Mal wurden Wählerinnen und Wählern bei der Abgeordnetenhauswahl Stimmzettel nicht ausgehändigt - obwohl genug Stimmzettel vorhanden waren. Die Landeswahlleiterin Michaelis geht von einem "Versehen" oder "Überforderung" aus - ein absichtliches Nicht-Aushändigen sei nirgends gemeldet worden.

"Die unvollständige Ausgabe wurde oftmals dadurch entdeckt, dass sich eine Wählerin bzw. ein Wähler über den fehlenden Stimmzettel beschwerte", schreibt Michaelis in ihrem Bericht. Insgesamt waren den Wahlberechtigten - mit Ausnahme der 16-18-Jährigen sowie EU-Bürger:innen - sechs Stimmzetteln für die vier Wahlen zu geben.

Die dadurch fehlenden Stimmen können in Folge auch nicht gezählt werden. In zwei Wahlkreisen übersteigt die Zahl der nicht ausgehändigten Erststimmzettel den Stimmenvorsprung zum Zweitplatzierten: Im Wahlkreis 6 in Charlottenburg-Wilmersdorf und im Wahlkreis 1 in Marzahn-Hellersdorf. Eben dort hat die Landeswahlleitung am Donnerstag Einspruch angekündigt. Diese Wahlpanne war vermutlich mandatsrelevant.

Eine Stimme könnte in Lichtenberg entscheiden

Knapp könnte es auch noch im Wahlkreis 3 in Lichtenberg werden: Dort wurden 301 Wähler und Wählerinnen an ihrem Wahlrecht für ihren Direktkandidaten gehindert, weil ihnen kein Stimmzettel ausgegeben wurde. Claudia Engelmann (Linke) liegt dort gerade mal 302 Erststimmen vor dem SPD-Kandidaten Karsten Strien.

Sollte eine etwaige Nachzählung dort auch nur eine Stimme mehr für Strien ergeben, wäre diese Wahlpanne womöglich mandatsrelevant. Wie der SPD-Politiker rbb|24 auf Anfrage mitteilte, behält er sich mögliche rechtliche Schritte nach einer genaueren Prüfung des Wahlergebnisses vor.

Strien erklärte, er habe bereits nach dem vorläufigen Ergebnis den Wahlbezirksleiter auf "Inkonsistenzen" im Wahlkreis 3 hingewiesen. Dieser habe ihm geantwortet, dass sich durch die Prüfung der Ergebnisse keine gravierenden Änderungen ergeben hätten und Unstimmigkeiten hätten aufgeklärt werden können. "Das nun vorliegende amtliche Endergebnis zeigt (auf den ersten Blick), dass einige Unstimmigkeiten tatsächlich ausgeräumt werden konnten, jedoch noch immer Inkonsistenzen bestehen bzw. Wählerinnen und Wählern ihr Recht auf Abgabe ihrer Erststimme vorenthalten wurde", so Strien.

Aber auch die Zweitstimmen waren betroffen. 1.213 Mal bekamen Wähler und Wählerinnen ungerechtfertigterweise keinen Zweitstimmzettel für die Abgeordnetenhauswahl. Insgesamt wurden - ohne eigenes Verschulden - mehr als 5.000 Mal Wählerinnen und Wähler der Möglichkeit beraubt, ihre Stimme abzugeben.

Falsche Stimmzettel in 24 Wahllokalen

1.608 Wähler und Wählerinnen bekamen falsche Stimmzettel für die Erststimme der Abgeordnetenhauswahl ausgehändigt. Diese Stimmen wurden von den Wahlausschüssen ungültig gewertet.

Als ursächlichen Grund macht dafür die Landeswahlleiterin Petra Michaelis nicht richtig sortierte Anlieferungen durch die Druckerei aus. Das Problem sei bereits im August bemerkt worden. In einigen Bezirken kontrollierten daraufhin Mitarbeiter:innen der Druckerei vor Ort die Wahlunterlagen; für die Wahllokale erstellte die Wahlleitung ein Informationsblatt.

Aber "offensichtlich konnte das Problem bei der Masse an Stimmzetteln nicht komplett beseitigt werden", sagt die Landeswahlleiterin Petra Michaelis laut Niederschrift.

73 Wahllokale vorübergehend geschlossen

Wegen fehlender Stimmzettel mussten laut Landeswahlleiterin 73 Wahllokale vorübergehend schließen und damit die Wahl unterbrechen. In diesen Wahllokalen waren insgesamt rund 48.000 Menschen für die Abgeordnetenhauswahl wahlberechtigt. Wieviele Wähler*innen genau durch die Schließungen eingeschränkt waren, lässt sich nur schwer berechnen.

Im Durchschnitt sei die Wahlbeteiligung in den zeitweise geschlossenen Wahllokalen höher als der Berlin-Durchnschnitt. In einzelnen Wahllokalen gibt es aber deutliche Ausreißer nach unten. Im Abgeordnetenhauswahlkreis 4 in Friedrichshain-Kreuzberg liegt die Wahlbeteiligung in Wahllokalen mit vorübergehender Schließung bei 60,3 Prozent. In den Wahllokalen, in denen druchgängig gewählt werden konnte, im selben Wahlkreis - also, in unmittelbarer Nachbarschaft - liegt die Wahlbeteiligung mit 69,3 Prozent deutlich höher.

In dem Wahlkreis liegt die unterlegene Direktkandidatin, Monika Hermann (Grüne), nur 211 Erststimmen hinter Damiano Valgolio (Linke).

Wählen um 20:56 Uhr

In etlichen Wahllokalen wurde noch bis weit nach 18 Uhr gewählt. Die Regel sagt: Wer zum Wahlschluss um 18 Uhr in der Schlange steht, darf noch seine Stimme abgeben. Erst um 20:56 Uhr war das in einem Wahllokal der Fall. In 344 Wahllokalen wurde bis 19 Uhr gewählt, in 74 Wahllokalen bis 20 Uhr und in sechs Wahllokalen war zwischen 20 Uhr und 20:56 Uhr Schluss.

In drei Wahllokalen im Pankower Wahlkreis 2 wurde die Wahl nach 18 Uhr wegen fehlender Stimmzettel abgebrochen. "Das Bezirkswahlamt geht davon aus, dass 138 Personen ihre Stimme nicht abgeben konnten", sagt die Landeswahlleitung.

Beitrag von Dominik Ritter-Wurnig

34 Kommentare

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  1. 32.

    Na ja, aus der vermutlich zukünftigen Opposition kommen keine laut vernehmbaren Neuwahlrufe. Das sollte Sie in Ihrer Argumentation nachdenklich stimmen. Möglicherweise gibt es so etwas wie geltendes Recht und die rechtliche Bewertung ergibt keine Grundlage für eine Neuwahl?

  2. 31.

    Am Besten - Neuwahlen in Berlin! Es wird dazu aber nicht kommen - da hat die SPD etwas dagegen. Frau Giffey versprach "eine Politik der Mitte". Mit RGR sehe ich nur LINKS! Was das bisher gebracht hat sieht man jeden Tag. Das erkennen bestimmt auch andere Wähler. Ob die SPD dann als stärkste Kraft bestätigt werden würde ziehe ich in Zweifel.

  3. 30.

    Interessiert Euch für Herrn Geisel! Vermutlich haben wir ihn das Nebeneinander von Bundestags, Abgeordneteshaus- und BVV-Wahlen parallel zum Berlin-Marathom am 26.9.21 zu verdanken.

  4. 29.

    Sie wissen also nicht, dass es zu Abweichungen bei der Briefwahl kam (denn Sie fragen danach). Aber Sie haben den Verdacht. Aber im Prinzip auch alles egal, Neuwahl und Punkt.

    Diese Argumentationskette hat Brüche.

  5. 28.

    Das dieser Tag, der 26. September, in Berlin lange in Erinnerung bleibt, steht außer Frage. Jetzt vom Verlust des Vertrauens in die Demokratie zu sprechen, zweifel ich sehr stark an. Die Pannen und Fehler, Ob fahrlässig oder Vorsatz, arbeitet die Verwaltung gerade auf. Auch das bereits das landesverfassungsgericht den Fall bearbeiten wird, steht für ein Funktionieren der Demokratie.

    Meine Schlussfolgerung:
    Die Panne ist ärgerlich und sollte eigentlich ausgeschlossen sein. Eigentlich! Die Aufarbeitung beginnt Fahrt aufzunehmen. Das ist gut so! Hoffen wir dass die Zahlen im November konkrete Werte annehmen und ob es für die Verteilung im Parlament noch zum Rücken der Stühle kokommt. Schauen wir! Dass öffentlich an.
    Eine Wiederholung der Wahl, mach dem jetzigen Stand, halte ich nicht für berechtigt.

  6. 27.

    Mich würde interessieren, ob die abgegebenen Briefwahlzettel ordentlich ausgezählt wurden. Es drängt sich der Verdacht auf, dass das dann auch nicht geschehen ist. Ich weiß gar nicht, was es zu überlegen gibt: die Wahl muss wiederholt werden.

  7. 26.

    Es lässt sich nicht exakt bestimmen, mit gewisser Sicherheit jedoch aus den vorliegenden Zahlen aller Wahlkreise ableiten(vulgo: Statistische Auswertung). Rechtlich ist zu bewerten, ob das ausreichend ist.

  8. 25.

    Der Absatz bezüglich Wahlkreis 4 ist genauso unvollständig recherchiert und tendenziös formuliert wie im ersten Kommentar von Hr. Ritter-Wurnig. Dabei sind alle Zahlen transparent downloadbar und mit etwas Excel-Zauberei in einen vernünftigen Kontext zu bringen. Das ist meine Erwartung an Journalismus.

  9. 24.

    Erst- und Zweitstimme nicht auf einen Stimmzettel zu drucken erleichtert die systematische Sortierung und Auszählung sowie Nachzählung enorm.

    Das war bei den Zetteln der BTW komplizierter.

  10. 23.

    Ach Jottchen, dass es den bescheuerten Spruch immer noch gibt...
    "Wenn Wahlen wirklich etwas ändern würden, gäbe es keine."
    Also her mit Kaiser oder Führer, mit denen sind wir ja mächtig gut gefahren..... Und man spart sich die Arbeit mit den Wahlzetteln, alles viel besser dann!!

  11. 22.

    "Wieviele Wähler*innen ... eingeschränkt waren, lässt sich nur schwer berechnen."
    Was ist denn das für eine Formulierung? Es lässt sich nicht einmal schwer berechnen, sondern eben einfach gar nicht.

  12. 21.

    Sie sehen also keine Unregelmäßigkeiten bei dieser Wahl ?
    Das erinnert mich an eine Zeit lange vor Trump

  13. 20.

    Alice: "Würde eine Firma eine derart fehlerbehaftete Steuererklärung abgeben, wäre die Bude ratz fatz dicht. Soweit der Bauch." -> Sie müssen nur als Privatperson Ihre Steuererklärung zu spät abgeben, schon bekommen Sie Ärger mit dem Finanzamt. Das kann richtig teuer werden. Da nimmt der Staat es ganz genau und pocht auf die Pflichten der Bürger.

    Aber falls Staat und Verwaltung mal in der Pflicht stehen, siehe Wahlchaos, dann ist es plötzlich ganz anders. Da wird dann gerade nicht dieser knallharte Maßstab angelegt. Da wird dann beschwichtigt, klein geredet und vertuscht. Liebe Berliner Verwaltung und Politiker: Sowas zerstört das Vertrauen in die Demokratie. Staat und Verwaltung haben die verdammte Pflicht, dem Bürger einen ordnungsgemäßen Wahlablauf zu garantieren. Wir haben hier eine Demokratie und keinen Staat nach Gutsherren-Manier.

  14. 19.

    Es wird Zeit, dass sich die OSZE-Wahlbeobachter mal zu den Zuständen in Berlin äußern. Da laufen ja die Wahlen in Rumänien besser.

  15. 18.

    Wird nicht kontrolliert und ist mir als Wahlvorstand als extreme Ausnahme schon passiert. Aber: Der Wähler ist im Wählerverzeichnis "abgehakt" und im Protokoll ergibt das eine Differenz. Man hat mehr Wähler als Stimmen. Es lässt sich also bei einer Differenz ziemlich genau auf die Zahl nicht ausgegebener Stimmzettel schließen.
    wmt

  16. 17.

    Ja, genauso so sollte es sein. Kein Zettel verlässt das Lokal, so stand es geschrieben. Dafür war der Wahlvorsteher höchst persönlich verantwortlich und wenn er sein Amt Ernst genommen hat dürften nur minimal Wahlzettel fehlen. Da 3 Zettel gleichzeitig in die Urne für das Abgeordnetenhaus geworfen wurden konnte es aber schon vereinzelt passieren.

  17. 16.

    Ich gebe Ihnen Recht. Bei diesem Durcheinander bin ich der Ansicht, dass in Berlin nochmals gewählt werden sollte. Diese Wahl hat mit ihren ernormen Pannen einen sehr bitteren Nachgeschmack. Es handelt sich zwar nicht um Wahlbetrug und vielleicht ändert sich nicht enorm etwas aber so würden die Politiker Größe zeigen und m. E. enorm an Vertrauen gewinnen.

  18. 15.

    Wahrscheinlich hat man gedacht, dass die meisten Briefwahl machen und alles nicht sonderlich voll würde.
    Die Anzahl der Stimmen wurden anscheinend auch nicht als Zeitfaktor berücksichtigt.
    Ebenso frage ich mich, warum man nicht immer Erst- und Zweitstimme auf einen Zettel druckt???
    Dann würde Vieles nicht passieren.
    Dann noch die Berichte über Kabinenmangel usw.
    Dann noch alles auf Coron schieben.
    Dabei waren die langen Endlos-Schlangen aus Infektions-Sicht schlimmer als 2 Kabinen mehr aufzustellen, wo die Leute eine Minute nebeneinander sitzen.

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